Kleine Veränderungen können eine große Wirkung haben – #118

In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" spricht Gert Kowarowsky am Beispiel des Meißner-Effekts über die Kraft, die neue Erfahrungen auf unser Leben und unser Umfeld haben können.

Kleine Veränderungen können eine große Wirkung haben – #118
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Manchmal helfen in der Therapie auch Erkenntnisse aus der Physik, um alltägliche Belastungssituationen anders zu sehen und anzugehen als sonst.

Oft sind Menschen deprimiert, weil sie denken: Oh, was nützt es, wenn ich mich ändere – alle müssten sich ändern, damit es wieder besser werden kann. Und ja, es stimmt, je mehr Menschen sich in die gleiche positive Richtung bewegen, je mehr Menschen achtsamer mit sich umgehen, mit den anderen, den Tieren, den Pflanzen, der Natur und mit allem, was wir unsere Umwelt nennen, desto größer wird das Ausmaß des positiven Wandels sein und desto schneller wird er erreicht werden.

Wie kleine Dinge eine große Veränderung herbeiführen können

In einer Sitzung, in der wir die Bedeutung auch von kleinsten Einflüssen auf das individuelle Leben besprachen, überraschte mich Annika, eine Physik-Studentin, mit ihren Erkenntnissen aus der Physik.

Ich war gerade dabei, ihr zu erklären, dass manchmal kleinste Dinge eine große Veränderung in unserem Leben bewirken können: Elemente wie ein Tropfen Tinte. Ein klitzekleiner Tropfen Tinte führt in einem vollen Wasserglas zu dramatischen Veränderungen. Das Wasser im Glas wird sich durch diesen minimalen Einfluss von außen deutlich verfärben.
Empfindest du dein Glas als gefüllt mit guten Gewohnheiten, vertrauten, sinnvollen Tages- und Wochenroutinen, die effektiv sind und mit denen du dich wohlfühlst, dann wird dir die Verfärbung ein lästiger Einfluss sein. Ein winziger Störfaktor kann deine Klarheit und dein Wohlbefinden ins Wanken bringen. Ein kleiner unerwünschter Einfluss kann Unsicherheit und Angst oder zumindest einen starken Unwillen in dir auslösen. Eine kleine Blase am Fuß zum Beispiel kann deine Freude an einer Wanderung ziemlich trüben.
Findest du deine Routinemuster und deine geordnete Lebensführung aber langweilig und wegen ihrer vorhersagbaren Ereignislosigkeit zu wenig lebendig, dann wird dieser kleine Tropfen Tinte im wahrsten Sinne des Wortes Farbe in dein Leben bringen. Indem sich der Tropfen langsam ausbreitet, verändert sich alles. Neue Perspektiven eröffnen sich. Unsichtbares kann sichtbar werden. Deine Gedanken bekommen eine neue Farbe des Lebens.

An dieser Stelle strahlte Annika und meinte: "Und das gilt nicht nur für minimale Einflüsse auf das individuelle Leben. Das gilt auch für minimale Einflüsse auf das kollektive Leben."
Als ich etwas verdutzt schaute, erklärte sie mir, dass aus physikalischer Sicht die oftmals pessimistische Sicht vieler Menschen auf ihre begrenzten Einflussmöglichkeiten aufs große Ganze nicht notwendig sei.

Sie führte aus: „Es gibt in der Natur auch Gesetzmäßigkeiten, die uns helfen können, wieder zuversichtlicher zu werden. Gesetzmäßigkeiten, die in der Physik beschrieben werden, die dabei helfen, Ohnmachtsgefühle zu reduzieren und Lust machen, das zu tun, was uns möglich ist. Wenn es zum Beispiel darum geht, ein System aus vielen sich ungeordnet verhaltenden Teilchen in ein System mit größerer Geordnetheit zu verwandeln. Es genügt tatsächlich schon eine relativ kleine Anzahl von geordneten Teilchen, um die anderen dazu zu bewegen, sich ebenfalls zu verändern. Wenn etwa in einem Eisenstab nur ein Prozent der Elementarteilchen sich geordnet ausrichtet, plus zu plus, minus zu minus, dann wird der gesamte Eisenstab magnetisch werden. Dies geschieht einfach dadurch, dass sich die 99 zuvor ungeordnet verhaltenden Teilchen nach kurzer Zeit ebenfalls polarisieren.

Der Meißner-Effekt: Wie neue Erfahrungen dein Schutzfeld aufbauen können

In der Tat eine interessante Beobachtung. Wenn sich diese Effekte auch in sozialen Systemen beobachten lassen, dann bekommt die Aussage von Patanjali, dem Begründer des Yogasystems, eine nachvollziehbarere Grundlage. Er formulierte es so:

In der Gegenwart eines Yogis hört jede Feindschaft auf.

Die Anwesenheit eines oder weniger Menschen, die in sich in großer Geordnetheit ruhen, könnte dann – wenn wir das Beispiel von Annika zugrunde legen – einen harmonisierenden Effekt auf viele andere haben, die sich getrieben fühlen und diese innere Stille und Klarheit in sich noch nicht zu spüren vermögen.

Annika kam jetzt richtig in Fahrt: „Und es geht noch weiter. Wenn du diese neue Erfahrung innerer Stille, innerer Geordnetheit und Heiterkeit der Seele in dir zu spüren beginnst, kannst du nicht selten die Erfahrung machen, die in der Physik der Meißner-Effekt genannt wird.“

Sie erklärte mir, dass bereits 1933 die Physiker Walther Meißner und Robert Ochsenfeld etwas Erstaunliches entdeckt hatten: „Ein Supraleiter ist ein hochgradig geordnetes Material, das bei sehr tiefen Temperaturen seinen elektrischen Widerstand verliert. Er bietet dem Strom, der durch ihn hindurchfließt, keinen Widerstand. Diese Supraleiter haben eine zusätzlich faszinierende Eigendynamik. Ein Supraleiter verdrängt Magnetfelder aus seinem Inneren und baut gegen äußere Störfelder eine schützende Grenzfläche auf. Der Meißner-Effekt besagt also, dass ein Supraleiter sich durch ein nahezu magisches Schutzfeld gegen Unordnungstendenzen von außen zur Wehr zu setzen vermag. Er lässt auch starke Magnetfelder nicht in sein Inneres. Übertragen auf deine eigene psychische Stabilität bedeutet dies, dass die neue Erfahrung einer hohen inneren Geordnetheit vielen Einflüssen, die sonst in dich eingedrungen wären, die Macht nimmt, in dich einzudringen. Der Meißner-Effekt lässt sich für mich daher auch leicht auf psychische Prozesse übertragen.

Es liegt also an dir, wie du mit neuen Erfahrungen umgehen möchtest. Du kannst dich auf lebensförderliche „Störungen“, auf neue Erfahrungen einlassen, wenn du möchtest, auch wenn sie dir zunächst andersfarbig, fremd oder ungewohnt erscheinen. Sie können dir helfen, dein Leben bunter zu gestalten.

Sind aber von außen kommende Einflüsse nicht lebensförderlich für dich, dann kann dir die regelmäßige Erfahrung innerer Stille, innerer Geordnetheit und Heiterkeit der Seele hilfreich sein. Sie kann dir dazu verhelfen, leichter Lösungen zu finden und dich durch ein Schutzfeld der inneren Geordnetheit gegen Unordnungstendenzen von außen angemessen zur Wehr zu setzen.
Annika hat mich beeindruckt. Jedes Mal wenn ich mich jetzt hinsetze und meditiere, huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Wer weiß – vielleicht manifestiere ich jetzt den Meißner-Effekt …

Dir das Allerbeste bei deinen Übungen zur Steigerung deiner inneren Geordnetheit,

Dein Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis …

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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