Achtsamkeit, Wertschätzung und Dankbarkeit – #107

In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky wie Achtsamkeit, Wertschätzung und Dankbarkeit im Alltag zu mehr Zufriedenheit führen.

Achtsamkeit, Wertschätzung und Dankbarkeit – #107
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Stressbewältigung und Burnout-Prophylaxe sind oftmals die Themen, mit denen Menschen zu mir kommen. Neben der gemeinsamen systematischen Suche nach Lösungen für veränderbare Belastungselemente geht es dabei auch immer wieder darum, den Blick zu erweitern. Vom Blick auf das Große und Ganze bis hin zum Blick auf das kleinste Kleine.

Das viele Gute in unserem Leben ist für uns so selbstverständlich, dass wir es oftmals gar nicht wertschätzen, ja, überhaupt nicht mehr bewusst wahrnehmen. Achtsamkeit, bewusstes Wahrnehmen dessen, was hier und jetzt in mir und um mich herum geschieht, ist aber die Voraussetzung für Wertschätzung. Etwas wertzuschätzen wiederum ist die Voraussetzung für das bereichernde Erleben von Dankbarkeit.

Fallgeschichte aus der therapeutischen Arbeit: Julians Geschichte

Julian hatte eine neue Stelle als Software-Entwickler angenommen. Schnell hatte er sich in seinem Team eingelebt. Seine Kollege:innen und Vorgesetzten erkannten bald, dass er bei kniffligen Problemen immer wieder die brauchbarsten Lösungen fand. Nach nur wenigen Monaten war er heillos überlastet, neben seinen eigenen Projekten auch noch ständig Lösungen für die Projekte seiner Kolleg:innen zu finden. Er klagte vermehrt über Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Trotz aller beruflichen Anerkennung erlebte er selten Momente der Lebensfreude – er fühlte sich kurz davor auszubrennen.

Neben der notwendigen Analyse, wann es grundsätzlich für ihn wichtig war, nein zu sagen, erhielt er als bedeutsame Stressbewältigungsintervention von mir folgende Achtsamkeitsaufgabe:

„Beobachte von nun an bewusst, offen, neugierig und akzeptierend, was sich im Hier und Jetzt ereignet. Halte zwischendurch immer wieder inne und frage dich: Was sehe ich? Was höre ich? Was denke ich? Was rieche ich? Was fühle ich? Hier, jetzt, in diesem Moment! Das bedeutet auch, deinen Apfel mit voller Aufmerksamkeit und allen Sinnen wahrzunehmen und zu essen, anstatt ungeduldig darauf zu warten, dass das Update auf deinem Computer endlich vollständig aufgespielt ist.“

Julian ließ sich auf diese für ihn ungewöhnliche Aufgabe ein. Leicht fiel es ihm anfangs überhaupt nicht. Bisher war er es ja nur gewohnt, in Zahlen und Programmiersprachen zu denken und die meiste Zeit damit innerlich beschäftigt zu sein.

Je achtsamer, je aufmerksamer er nun aber auch den Kleinigkeiten des Alltags gegenüber wurde, desto mehr stellte er fest, wie sehr er das Wahrgenommene wertschätzen konnte. Er entdeckte viele unscheinbare Details in seinem Tagesablauf, die er bisher nie bewusst wahrgenommen hatte. Julian entwickelte zunehmend mehr Dankbarkeit, die nun sein Leben bereicherte. Er fühlte sich jetzt kraftvoller, lebendiger und deutlich stressfreier.

Die Wirkung eines Dankbarkeitstagebuchs

Ein sehr hilfreiches Werkzeug für Julian war es, sich jeden Abend fünf Minuten Zeit zu nehmen für sein Dankbarkeitstagebuch. Auf meinen Rat hin verzichtete er darauf, seine Beobachtungen auf die ihm vertraute Art in seinen Laptop zu tippen.

Handschriftliches Notieren ist jeder digitalen Dokumentation überlegen. Im Gegensatz zum Tippen ist Schreiben motorisch etwas ziemlich Komplexes. Dein Gehirn reagiert dabei viel lebendiger. Durch Schreiben wird dein Gehirn in sehr vielen Arealen gleichzeitig beansprucht. Es verändert sich dadurch positiv und wird aktiviert – wie ein Muskel, der regelmäßig benutzt wird. Durch die Vitalisierung des Gehirns hilft dir handschriftliches Schreiben dabei, leichter und tiefer zu lernen und dich an das Geschriebene besser zu erinnern. Was du mit der Hand aufgeschrieben hast, steht dir besser zur Verfügung; dein Bewusstsein kann es wesentlich schneller und klarer abrufen.

Julian berichtete, dass ihm seine täglichen handschriftlichen Aufzeichnungen sehr dabei geholfen haben, seinen Blick auf all das zu lenken, was bereits Teil seines Lebens war, ohne sich aber dessen bewusst gewesen zu sein: all die Geschenke der Natur, das klare trinkbare Wasser, die Menschen und Tiere in seinem Leben, die geistigen Anstöße, die er aus unterschiedlichsten Quellen immer wieder erfuhr, die vielen hilfreichen Errungenschaften der Zivilisation und der Technik in seinem Alltag. Zunehmend freute er sich auch mehr und mehr darüber, was er bei sich selbst wahrzunehmen in der Lage war: seine Kreativität, sein Optimismus, seinen Mut.

Oft waren es wirklich die allerkleinsten Kleinigkeiten, die er mit seiner neuen Achtsamkeit wahrnahm und die er wertzuschätzen vermochte: ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster fiel, der Duft von frisch gebackenem Brot im Bäckerladen um die Ecke oder das Lächeln eines Kindes, das ihn beim Warten in der Schlange im Supermarkt aus seinem Platz im Einkaufswagen anstrahlte. Kleine Augenblicke, die ihm halfen innezuhalten und ihn daran erinnerten, dass das Leben aus mehr besteht als nur aus großen Projekten und zu erbringenden Leistungen.

Besonders berührten ihn und erfüllten ihn mit Dankbarkeit die kleinen Gesten der Freundlichkeit, die er nun häufiger in seinem Alltag wahrnahm als je zuvor. Immer wieder entdeckte er auch die magischen kleinen Momente, wenn er zum Beispiel auf der verregneten Fahrt nach Hause plötzlich mit einem Regenbogen beschenkt wurde oder am Abend auf seinem Balkon in den Nachthimmel schaute und sich der unendlichen Galaxien bewusst wurde, die uns umgeben. Manchmal geschah es auch, dass ihn die bewusste Wahrnehmung und Wertschätzung des Mikrokosmos einer Blumenwiese oder eines bemoosten Baumstammes beflügelte und er sich dann unbeschwert fühlte wie ein Kind.

Julian fasste am Ende seiner Therapie seine Erfahrungen so zusammen: „Durch das tägliche handschriftliche Notieren in meinem Dankbarkeitstagebuch habe ich gelernt, das Alltägliche und Selbstverständliche wieder wertzuschätzen. Das hat mir geholfen, mich viel zufriedener zu fühlen, viel entspannter und zuversichtlicher.“


Deshalb:

Lerne das Alltägliche und Selbstverständliche wertzuschätzen. Das schenkt dir mehr Zufriedenheit.

Und:

Auch im Kleinen und Unscheinbaren findet sich so viel Schönheit und Lebendigkeit. Nimm dir öfter mal die Zeit, dich davon durchströmen zu lassen.


Dein

Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis …

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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