In dieser Beitragsserie berichtet der Psychologe Gert Kowarowsky von den Erfahrungen aus seiner therapeutischen Praxis. Dieses Mal: Wie Kreativität geweckt werden kann.
Wann immer es um Kreativität geht, geht es darum, den Stress des Machen-Müssens, den Stress des Produzieren-Müssens hinter sich zu lassen. Das Bild des hohlen Bambusrohres, durch welches das perlend frische Wasser lebensfroher Ideen sprudelt, ist hier viel hilfreicher. Doch wie soll das gehen, einfach so vor sich hinzusprudeln – oder richtiger, es einfach so vor sich hinsprudeln zu lassen?
Ich erinnere mich an eine Kunststunde kurz vor den anstehenden Abiturprüfungen.
Unsere Kunstlehrerin sah uns an, wie sehr wir alle im Kopf gefangen waren und jegliche Art kreativen Gestaltens außerhalb unserer Möglichkeiten zu sein schien. Sie rollte daher auf der Bank vor jedem Einzelnen von uns – wir waren damals ein reines Jungengymnasium – eine Zeitungskernrolle aus. Ein fast zwei Meter langes und mehr als ein Meter breites unbedrucktes Stück Zeitungspapier wurde aus dieser Rolle für jeden abgetrennt und lag nun vor uns. Dazu gab’s je zwei Gefäße mit Wasser, zwei Pinsel sowie ein Töpfchen roter und ein Töpfchen blauer Plaka-Farbe – das war unser kreatives Ausgangsmaterial. Und nun? "Nun", so erklärte uns unsere Kunstlehrerin, "nun werde ich meinen mitgebrachten Ghetto-Blaster röhren lassen und euer Job ist, mit je einem Pinsel in der linken Hand und einem Pinsel in der rechten Hand den Kampf Rot gegen Blau auf eurem Papier stattfinden zu lassen …"
WOW! Was für eine lustvolle Aufgabe, bei der niemand etwas falsch machen konnte. Ein Arbeitsauftrag kreativer Art, bei dem es kein "schön", kein "richtig", kein "falsch", kein "gut", kein "schlecht", kein "höher", "schneller", "weiter" oder sonst irgendein Leistungskriterium zu erfüllen gab.
Die Musik ertönte tatsächlich kraftvoll aus den Boxen und rote und blaue Farbe floss bei jedem von uns aus beidhändigen intensiven Bewegungen auf die Blätter. Welche Freude! Gedanken, Gefühle, innere Bilder, Impulse für kraftvolle oder zarte Linienführungen und Flächeneinfärbungen. Es strömte intensiv in jedem von uns. Manche mochten gar nicht mehr aufhören und bekamen lächelnd ein zweites, ein drittes und viertes Blatt.
Diese Erfahrung war für mich das Paradebeispiel dafür, wie Kreativität erweckt werden kann. Und das, obwohl wir uns alle in einem vermeintlich völligen kreativen Tiefschlaf befanden.
Was ich für mich daraus gelernt habe und gerne an meine Patienten weitergebe, ist die dahinterliegende Funktionsweise unseres Bewusstseins:
Wenn du Lust darauf hast deine Kreativität zu wecken, schicke deinen Zensor schlafen!
Wie das geht?
Es gibt auch hierbei viele (kreative) Wege, die nach Rom führen …
Experimentiere damit, was sich für dich verändert, wenn du Sätze wie:
… ersetzt durch:
… oder durch:
… oder bei völligem kreativen Tiefschlaf:
Deine Kreativität lässt sich umso lieber wecken, je spielerischer, je liebevoller du sie dazu aufforderst. Deine Kreativität will nichts müssen. Befehle wie "Komm!", "Los!", "Jetzt aber!" mag sie ebenso wenig.
Was deine Kreativität mag, ist Leben, Lieben, Lachen. Sie mag auch Stille, Tiefe, Traurigkeit. Sie mag in Gemeinschaft sein und alleine sein. Sie wird wacher und wacher, je mehr sie bemerkt, dass du ihr erlaubst, da zu sein.
Deine Kreativität reibt sich immer dann erwachend ihre Augen, wenn sie hört, dass du unter der Dusche lustvoll vor dich hinprustest oder gar anfängst zu singen. Sie ist lebendig, wenn du dir vor Freude einen kleinen Hüpfer oder gar einen kleinen Tanz erlaubst. Wenn dein Stift beim Telefonieren interessante Muster auf dem Notizzettel hinterlässt. Kurzum, du weckst deine Kreativität, wann immer du es dir erlaubst, neue Wege zu gehen, wann immer du den leisen Impulsen in dir gestattest, sich hinaus in die Welt zu wagen. Je häufiger du deiner Kreativität ermöglichst, sichtbar, hörbar, fühlbar, riechbar oder schmeckbar zu werden, desto mehr wird sie dich hellwach begleiten und Tag für Tag deine Lebensfreude steigern.
Dein
Gert Kowarowsky
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