Leseproben aus dem Ratgeber "Durch die Krise begleiten": Was macht die Krise mit den begleitenden Menschen und wie können sie einen guten Weg finden, für die Betroffenen da zu sein und dabei selbst stabil zu bleiben. Dieser Beitrag klärt auf, zeigt Übungen und gibt Hilfestellungen.
In den meisten Krisen richtet sich das Augenmerk auf diejenigen, die im Zentrum des Geschehens stehen: die Betroffenen. Dieses Buch jedoch widmet sich den Begleitenden: Angehörigen, Freunden, nahestehenden Personen des Betroffenen. Diese Menschen werden, genau wie ihre Bedürfnisse und Gefühle, allzu oft vergessen. Und die können ganz anders als die der Betroffenen sein. In dieser Leseprobe wollen wir der Frage nachgehen: Was macht die Krise mit den Begleitenden?
Ein Fallbeispiel
Lindas Schwester Anna bringt in der 32. Woche per Notkaiserschnitt einen kleinen Jungen auf die Welt. Sowohl der Eingriff als auch die ersten Tage sind kritisch, das Kind muss auf der Intensivstation bleiben. Anna zieht sich komplett zurück, um den Schock zu verarbeiten.
Linda indes kann sich über die viel zu frühe Geburt des Neffen in den ersten Tagen nicht freuen. Ihre Gedanken und Gefühle sind bei der Schwester, die ihr sehr nahesteht. Sie weiß, dass Anna sich gern stärker gibt, als sie in Wahrheit ist, und befürchtet, dass sie das Erlebte verdrängen könnte, statt es zu verarbeiten. Viel schwieriger als die Sorge um die Schwester ist für Linda aber, dass man ihr als Angehöriger offenbar alle negativen Gefühle abspricht. Das Umfeld gratuliert ihr zum Neffen, beschwichtigt mit Floskeln wie "Ach, es haben doch schon ganz andere Frühchen geschafft" und verlangt von ihr, sich nicht unnötig den Kopf zu zerbrechen. Linda ist irritiert: Wieso darf sie nicht traurig sein, dass ihrer Schwester und dem Kind diese traumatische Erfahrung nicht erspart geblieben ist? Weshalb wollen alle von ihr, dass sie glücklich ist?
Gefühle sind individuell, genau wie Trauer- und Trennungsprozesse. Während sich manche gleich nach einem Beziehungsende ins Nachtleben stürzen und die Puppen tanzen lassen, brauchen andere Monate oder Jahre, um emotional wieder auf die Beine zu kommen, und ziehen sich in dieser Zeit oft sehr in sich zurück.
Es kann zuweilen schwer sein, sich dem allgemeingültigen Verständnis von "So macht man es richtig" entgegenzustellen. Aber es gibt keine richtige oder falsche Art, wie man trauert, sich freut oder eine Krise übersteht – weder als Betroffener noch als Begleitender.
Wie können wir als Krisenbegleitende mit unseren eigenen Gefühle umgehen?
Als Person "in der zweiten Reihe" erlebt man eine Krise unmittelbar mit. Auch wenn sie einen nicht persönlich betrifft, trifft sie einen eben doch – durch die Beziehung, die man zu den Betroffenen hat. In den meisten Fällen haben Begleitende das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, als zu helfen. Sie haben sich die Situation nicht ausgesucht, fühlen sich vielleicht sogar hineingeworfen. Das kann zu verschiedenen Reaktionen führen, denen sich die Begleitenden ausgesetzt fühlen.
Wer sich in seiner Situation nicht zu helfen weiß, wird oft wütend. Die daraus resultierenden Aggressionen können sich gegen die eigene Person, die Betroffenen oder andere Menschen richten, die mit der Krise zu tun oder sie ausgelöst haben. Häufig äußern sich die Aggressionen in Schuldzuweisungen. Die Frage nach der "Schuld" bringt jedoch nichts, weil sie sich an der Vergangenheit orientiert und nichts Konstruktives zur Situation beiträgt. Einem jahrzehntelangen Raucher zum Zeitpunkt der Lungenkrebsdiagnose Vorhaltungen zu machen, ändert rein gar nichts an seiner Situation und ist nicht konstruktiv. Menschen neigen dazu, das, was ihnen widerfährt, in Kausalität zu setzen. "Hättest du bloß nicht …"- oder "Wärst du mal besser …"-Vorwürfe sind das Resultat. Dennoch sind aggressive Verhaltensmuster im ersten Moment normal und können, als Zeichen der Überforderung gewertet, schnell aufgelöst werden.
Es ist eine menschliche Reaktion, das Unveränderbare erst einmal pauschal abzulehnen, sich vielleicht sogar durch vollständiges Ausblenden oder Ignoranz der Lage für einen kurzen Moment "Erleichterung" zu verschaffen. Was ich nicht sehe, ist auch nicht da – für eine gewisse Zeit, in der auch die Begleitenden die ausgebrochene Krise verdauen müssen, ist das durchaus in Ordnung. Auf Dauer kann es aber keine Lösung sein, die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen oder die Krise zu ignorieren beziehungsweise wegzulächeln.
Geteiltes Leid ist halbes Leid? Bedingt! Der Mensch ist zur Empathie fähig, deshalb ist es verständlich, warum er Mitleid empfindet, wenn er von einem Schicksalsschlag eines anderen erfährt. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl: Wer Mitleid empfindet, leidet wortwörtlich "mit", nimmt Anteil am Schmerz und Leid anderer. Oft denkt er sich: "Der oder die Arme kann einem richtig leidtun." Wir bedauern die Betroffenen, sind aber gleichzeitig froh, dass es uns besser geht – und das fühlt sich nicht gut an. Durch das Bedauern manifestiert sich außerdem eine Hierarchie: Bemitleidete Personen stehen automatisch niedriger als mitleidende. Mitgefühl indes ist ein echter Akt der Anteilnahme und Zuwendung. Mitgefühl zu haben bedeutet, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen, ohne das Leid des anderen zu kopieren, zu reproduzieren oder sich damit zu identifizieren. Im Gegensatz zum Mitleid entsteht so automatisch ein kleiner, aber wichtiger Abstand, der für die Selbstfürsorge des Mitfühlenden, aber auch für das Beziehungsgleichgewicht der beteiligten Personen immens wichtig ist.
Nicht selten kommt es vor, dass Menschen in eine Art passive Starre verfallen, wenn ihnen nahestehende Personen eine Krise durchleben. Die Überforderung bricht sich Bahn und lässt die Begleitenden vor Schreck oder Trauer erstarren. Einfache Dinge wirken plötzlich wie nicht zu bewältigende Aufgaben, man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Auch diese Reaktion ist nachvollziehbar, jedoch hilft sie in der Regel weder den Betroffenen noch den Begleitenden, irgendetwas an der Situation zu verändern oder für einen Moment der Erleichterung zu sorgen. In diesem Fall hilft nur noch, Unterstützung von außen zu holen, um aus dem passiven Verharren wieder in ein aktives Handeln zu kommen.
Brauchen Sie professionelle Hilfe? Hier kann Ihre Unterstützung darin bestehen, gemeinsam zu überlegen, wer welche Aufgaben übernimmt. Überlegen Sie zusammen, ob eine Therapie, ein Klinikaufenthalt, eine Reha oder ein mobiler Dienst helfen können. Im Netz findet man von Krisendiensten bis zu Therapeutinnen und Therapeuten zahlreiche Hilfsangebote.
Das Gegenteil der Hilflosigkeit ist der oft blinde Aktionismus, den einige Begleitende nach einem Krisenausbruch an den Tag legen. So gut ihre Absichten auch sind, sollten sich Personen, die zu diesem Reaktionsmuster neigen, immer auch fragen: Wem dient mein Verhalten am Ende des Tages wirklich – mir selbst oder demjenigen, den ich unterstützen möchte? Aktionismus projiziert die eigenen Unsicherheiten und Sorgen auf den anderen: Man tut irgendetwas, im Versuch, nicht untätig herumzusitzen und sich hilflos zu fühlen – unabhängig davon, ob die Betroffenen die Hilfe überhaupt wünschen oder ob sie ihnen nützt.
Hier können auch eine Körperreise oder Achtsamkeitsübungen helfen.
Es gibt zahlreiche Anleitungen für Progressive Muskelentspannung, Meditation oder Autogenes Training. In jedem Fall ist das Ziel, dass Sie aus dem Aktionismus herauskommen und innehalten. So können Sie wahrnehmen, wie es Ihnen gerade geht und was Sie für sich tun können, um sich zu stabilisieren.
Auch wenn unsere Absichten gut sind, tun wir oft nicht das Richtige. Viel zu häufig meinen wir, uns mit den Bedürfnissen der Betroffenen auseinanderzusetzen, in Wahrheit handeln wir jedoch aus einem egoistischen Motiv heraus. Das ist menschlich und nachvollziehbar, manchmal aber kontraproduktiv. Dabei gibt es einen Weg, wie Begleitende auf einen Krisenausbruch reagieren können:
Aktives Zuhören besteht nach seinem Begründer, dem US-amerikanischen Psychotherapeuten Carl Rogers, aus drei Elementen:
Wie der Begriff nahelegt, ist Aktivität die Grundvoraussetzung für aktives Zuhören. Dabei geht es darum, das Anliegen des Gesprächspartners richtig zu verstehen und Vertrauen aufzubauen. Aktives Zuhören bezieht sich auf die Sachebene. Es handelt sich um das Paraphrasieren, also das Umschreiben dessen, was ich gehört habe, mit eigenen Worten. Eventuell nachfragen, ob ich es richtig verstanden habe.
Die folgenden Einstiegsformulierungen können Sie beim Paraphrasieren unterstützen:
Wir alle kennen vermutlich Situationen, in denen das Gesagte beim Gegenüber völlig falsch ankommt. Oder wir fühlen uns verletzt und reden nicht mehr darüber, worum es eigentlich geht. Um das zu vermeiden, können wir die Technik des aktiven Zuhörens bewusst anwenden. Dabei hören Sie Ihrer Gesprächspartnerin oder Ihrem Gesprächspartner eine Weile zu und wiederholen dann in Ihren Worten, was Sie verstanden haben, was die beziehungsweise der andere Ihnen gesagt hat. Danach können Sie fragen, ob Sie es richtig verstanden haben. Dann ist Ihr Gegenüber an der Reihe, Ihnen zuzuhören und nachzufragen, ob sie oder er Sie richtig verstanden hat. Diese Gesprächsübung wirkt zunächst etwas künstlich, aber sie ist ungemein hilfreich, da wir von der emotionalen Ebene wegkommen und uns eher auf den Inhalt des Gesagten konzentrieren.
Machen Sie sich bewusst, dass jeder Mensch andere Bedürfnisse hat. Vielleicht braucht die Person, die Sie begleiten, etwas ganz anderes, als das, was Sie denken. Hier hilft es, immer mal konkret nachzufragen und dann die geäußerten Bedürfnisse ernst zu nehmen. Genauso wichtig ist es, dass Sie gut auf sich und Ihre Bedürfnisse achten.
Wer einen anderen durch eine Krise begleiten möchte, spürt oft zu spät, dass die eigene Überlastung erreicht ist. Das hat viel mit dem Schuldgefühl zu tun, dass sich die Begleitenden im Vergleich zu den Betroffenen nicht beschweren dürfen. Sie denken: "Mir geht es ja gut. Ich darf nicht jammern!" Und vergessen dabei allzu oft, dass sie den Betroffenen nur eine echte Unterstützung sein können, wenn sie auf ihr eigenes Wohlergehen achten.
Auf die Balance kommt es an. Du kannst anderen nur helfen, wenn du dich um dich selbst kümmerst.
Doris Wolf
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