Wie wir Krisen als Wendepunkt verstehen können

Wie können wir einen positiven Blick auf Krisen entwickeln – die eigene und die einer anderen Person. Dieser Beitrag gibt wertvolle Tipps und Hilfestellungen für Angehörige von Menschen in seelischen Ausnahmesituationen. Ausschnitte aus dem Ratgeber "Durch die Krise begleiten".

Wie wir Krisen als Wendepunkt verstehen können
© PAL Verlag unter Verwendung eines Fotomotivs von unsplash.com

Die Ursachen für eine persönliche Krise sind vielfältig. Wesentlich für ihre Überwindung ist, dass die betroffene Person nicht alleine gelassen wird. Familie, Freunde und Bekannte können einen Teil der emotionalen und organisatorischen Belastungen abnehmen sowie physischer und seelischer Beistand in der schweren Zeit sein.

Doch wie können wir uns einer betroffenen Person nähern? Wie helfen wir ihr wirklich? Und wie können wir dabei auf uns achtgeben, damit wir nicht am Ende selbst in der Situation ausbrennen? Die erfahrenen Therapeutinnen Maja Günther und Andrea Sterr nehmen sich des sensiblen Themas an und geben – erstmals unabhängig von der Krise der Betroffenen – in einem praktischen Leitfaden wertvolles Basiswissen sowie einfache Übungen und konkrete Hilfestellungen für Angehörige und Freunde.

In ihrem Ratgeber "Durch die Krise begleiten" geben die erfahrenen Therapeutinnen Maja Günther und Dr. Andrea Sterr wertvolle Erklärungen, Hilfestellungen und Tipps für Angehörige, um die Balance zu finden auf dem schmalen Grat zwischen Fürsorge und Überforderung. In dieser Leseprobe geht es um die Bedeutung von Krise für uns Menschen.

Krisen meistern

„Ich glaub, ich krieg die Krise!“

Hand aufs Herz: Wie oft haben Sie den Satz schon gedacht oder sogar gesagt? Im Deutschen, vor allem in der Umgangssprache, verwenden wir das Wort Krise nicht nur sehr häufig, sondern auch vollkommen selbstverständlich. Wir sprechen über Beziehungskrisen, Lebenskrisen, Finanzkrisen, Regierungskrisen und Klimakrisen, kennen Krisengipfel, Krisensitzungen und Krisenregionen, und wenn wir davon sprechen, dass es zwischen zwei Menschen kriselt, meinen wir damit nichts Positives.

Denn in unserem Verständnis bedeutet das Wort Krise so viel wie Notlage, Misere oder Schlamassel. Wer in der Krise steckt oder gerade hineinschlittert, hat ein Problem. Das ist interessant und durchaus einen zweiten Blick wert.

Woher stammt der Begriff Krise?

Das Wort "Krisis" stammt aus dem Griechischen und bezeichnet eine "Zuspitzung", aber auch "Entscheidung". Sind Krisen also per se negativ? Zumindest im ursprünglichen Wortsinn nicht, vielmehr ist der Begriff neutral zu verstehen – denn eine "entscheidende Wendung" kann natürlich auch ins Positive gehen.

Dennoch hat sich in unserer Sprache und damit auch in unserem Verständnis die negative Konnotation der Krise durchgesetzt. Psychosozial bedeutet Krise einen Verlust des seelischen Gleichgewichts, ausgelöst durch verschiedene Ereignisse im Außen oder im Innen. Charakteristisch für die Krise ist auch, dass sie vom Betroffenen nicht ohne Weiteres aus eigener Kraft bewältigt werden kann. Bekannte Problembewältigungsstrategien, erlernte Verhaltensmuster und psychische Stabilität beziehungsweise Resilienz reichen nicht mehr aus, um rasch wieder auf die Beine zu kommen. In der Krise werden Herausforderungen zu Problemen, Lösbares zu Unlösbarem, Hürden zu unüberwindlichen Hindernissen. Einerseits, weil die Situation so neu ist, dass man noch nicht gelernt hat, mit ihr umzugehen, oder ein Ausmaß annimmt, dem man sich nicht mehr gewachsen fühlt; andererseits, weil die zur Verfügung stehenden Mittel mit einem Mal nicht mehr ausreichen oder unbrauchbar geworden sind.

Eine Krise ist in der Regel kein singuläres, punktuelles Ereignis, sondern dauert über einen längeren Zeitraum. Sie beschreibt eine Situation, die vom Alltag abweicht und verhindert, dass dieser wie gewohnt gelebt werden kann. Sie beschäftigt und beeindruckt in außergewöhnlichem Maße. Eine Krise wird dann ausgelöst, wenn die eigene Belastbarkeit überschritten wird und die "normalen" seelischen Ressourcen nicht mehr ausreichen, um Veränderungen zu bewältigen. Sie manifestiert sich in einer besonderen Zeit der Anspannung. Meist ist die Krise negativ belegt, da sie eine unmittelbare Veränderung bedeutet und uns Veränderungen oftmals verunsichern, ganz gleich ob sie positive oder negative Konsequenzen nach sich ziehen.

Merkmale: Wie erkennen wir eine Krise?

Keine Krise gleicht der anderen – sie kommen stets in unterschiedlichem Gewand daher. Da sich dieses Buch vor allem an diejenigen richtet, die eine Krise begleiten, weil sie eine nahestehende oder angehörige Person des Betroffenen sind, halten wir es für wichtig, als Außenstehender die Anzeichen für eine Krise erkennen zu können. Nicht immer geht nämlich ein sichtbares, fühlbares Ereignis voran, das eine Krise auslöst. Gerade Beziehungs-, Job- oder Identitätskrisen bauen sich oft über Monate bis Jahre auf, ehe sie zum Ausbruch kommen. Was der Auslöser oder der berühmte Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt und die Krise ausbrechen lässt, ist im Nachhinein oft schwer nachzuvollziehen.

Wie erkenne ich also eine Krise? Sie zeigt sich auf zwei verschiedenen Ebenen: in der Psyche, aber auch im Körper.

Psychische Symptome:

  • labile Grundstimmung
  • Anspannung und Erregung bis hin zu Stressgefühlen
  • Angstzustände und Panikattacken
  • Hilf- und Ausweglosigkeit
  • Schwarz-Weiß-Denken
  • "Karussell"-Denken, Fokussierung auf das Problem, "Verbeißen" im Thema
  • Ausblendung von Handlungsalternativen
  • irrationales Denken, oft sprunghaft und desorganisiert
  • Ablehnung oder Verleugnung, auch durch eskapistische Gedanken (Flucht in Traumwelt oder Fantasie)
  • unkoordinierte, ziellose Handlungen, manchmal in Form von "sinnlosen" Ersatzhandlungen
  • Aggression gegen andere oder sich selbst
  • soziale Isolation
  • das Gefühl, von niemandem verstanden zu werden

Physische Symptome:

  • Erschöpfung und Müdigkeit, oft gepaart mit Schlaflosigkeit
  • Herzrasen
  • Atemnot
  • Kopfschmerzen, Schwindel
  • Störungen des Magen-Darm-Trakts
  • Einschränkungen der Mobilität, Zittern
  • Appetitlosigkeit oder übermäßige Nahrungszufuhr (Essattacken)

Doch Vorsicht: Nicht jeder, der für eine Weile müde und abgekämpft aussieht, Gewicht verliert oder sich für eine Zeitlang aus dem sozialen Leben zuruückzieht, muss deswegen in einer Krise stecken. Oft ist es eine Vielzahl von unterschiedlichen Symptomen, die eine Krise anzeigen. Gleichzeitig müssen nicht alle Symptome vorhanden sein, um einem Außenstehenden klarzumachen, dass ein Mensch in einer Krise steckt.

Die 4 Phasen einer Krise

Die Betroffenen durchlaufen in einer Krise verschiedene Phasen, wie man sie beispielsweise auch bei der Trauerbewältigung kennt. Dabei zeigen sich wieder die unterschiedlichen Merkmale einer Krise.

Phase 1:Schockzustand

Nach dem auslösenden Ereignis (beispielsweise einer Krankheitsdiagnose, einem plötzlichen Todesfall oder einem Unfall) kommt es zu einem Moment des Schocks, der Lähmung oder Verwirrung, manchmal auch der Verleugnung und des Nicht-Wahrhaben-Wollens. Diese Phase kann mehrere Stunden, aber auch Tage oder Wochen dauern.

Phase 2:Gefühlschaos

Der Betroffene stellt sich der Realität, was eine Kaskade von zum Teil widersprüchlichen, oft heftigen Emotionen zur Folge hat, die in der Regel als bedrohlich wahrgenommen werden. Diese Phase dauert manchmal nur wenige Tage oder Wochen, kann sich aber auch über Monate erstrecken.

Phase 3:Bewältigung

Sobald die Gefühlsausbrüche abgeklungen sind, folgt die Phase der Akzeptanz und die Suche nach Bewältigungsstrategien. In dieser Phase wird im Idealfall der Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft gerichtet und neuer (Lebens-)Mut geschöpft.

Phase 4:Frieden finden

Der Betroffene macht seinen Frieden mit der Krise, kann ihr vielleicht sogar etwas Gutes abgewinnen oder einen Sinn in ihr erkennen. Er ist an den Ereignissen gewachsen und hat seine seelische Widerstandskraft gestärkt.

Nicht jeder Betroffene erlebt die Phasen einer Krise so akkurat voneinander abgegrenzt, wie sie in dieser Auflistung beschrieben werden. Im Gegenteil, es kann vorkommen, dass die Phasen nicht chronologisch verlaufen oder sich überlagern und wiederholen. Auch ist die Dauer der einzelnen Phasen individuell: Während die einen schon dabei sind, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, durchlaufen die anderen noch verschiedenste, oft schmerzhafte emotionale Stadien.

Als Begleitender einer Krise ist es von Vorteil, die unterschiedlichen Phasen zu kennen – selbst, wenn sie in den seltensten Fällen wie nach dem Lehrbuch vonstattengehen. Dennoch ist es hilfreich, die oft widersprüchlichen Gefühle und Handlungen der Betroffenen nachvollziehen zu können. Bei Betroffenen stellt sich oft das Gefühl des Kontrollverlusts ein. Um dieses Gefühl abzufangen oder zu kompensieren, wollen sie verstehen, warum das Ereignis oder die daraus resultierende Krise ausgerechnet sie getroffen hat. Psychologen nennen diesen Prozess der Krisenbewältigung Sensemaking oder Sinnsuche. Während die Phasen oft aufeinander aufbauen beziehungsweise einander folgen, findet die Sinnsuche meist vom Auslösermoment bis zum Abschluss der Episode statt und kann in jeder der vier vorgestellten Phasen zum Abschluss kommen.

Wie komme ich aus einer Krise heraus?

Manchmal fällt es leichter, sich mit einer Krise auseinanderzusetzen, die ihren Ursprung klar im Außen hat, wie eine Naturkatastrophe. Wenn Ihr Haus von einer Sturmflut überschwemmt wird und Sie dort nicht mehr wohnen können, werden Sie nach dem ersten Schock und der Verzweiflung über das, was Sie verloren haben, pragmatisch über die nächsten Schritte entscheiden: Wo komme ich unter? Was kann ich noch aus dem Haus retten? Wie geht es weiter?

Bei "inneren" Krisen halten wir uns häufiger mit der Frage nach dem Warum auf – auch denken wir, zumindest die Möglichkeit gehabt zu haben, etwas anders zu machen, um das Ergebnis zu verändern. So verbringen wir viel Zeit mit "hätte, könnte, würde", anstatt uns mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen und Lösungen zu finden. Also: "Hätte ich mehr auf mein Gewicht geachtet, wäre ich nicht an Diabetes erkrankt!" Gleichzeitig denken die wenigsten: "Hätte ich mir nicht dieses Haus gekauft, wäre ich von der Sturmflut verschont geblieben."

Der Unterschied zwischen einer Sturmflut, die ein Haus zerstört, und einem persönlichen Schicksalsschlag ist jedoch gar nicht groß. Es fühlt sich vielleicht anders an, im Grunde wird bei einer Erkrankung oder einem Verlust jedoch auch ein Haus in den Grundfesten erschüttert: das innere Haus, in dem unsere Selbstgewissheit und unsere Gewohnheiten beheimatet sind. Während einige Menschen sehr schnell die Krise akzeptieren und eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn finden, bleiben andere Betroffene teilweise über Jahre an "Warum ausgerechnet ich?"-Gedanken hängen. Die persönliche Lebenseinstellung, die seelischen Widerstandskräfte, aber auch die Fähigkeit einer Person, sich Hilfe im Außen zu holen und im Prozess begleiten zu lassen, beeinflussen die Dauer und das Ergebnis der Sinnsuche – und natürlich auch, wie zukünftig mit Krisen umgegangen wird.

Als Krisenbegleiter kann es helfen, den Betroffenen bei der Sinnsuche zu unterstützen und den Blick in die Zukunft zu lenken.

Solange die Krise akut wirkt, ist es naturgemäß nicht leicht, den Blick auf eine positive Zukunft zu richten. Doch auch die spätere Einsicht beziehungsweise das Erkennen, dass die Krise zu einem guten Ende oder einer nicht erwarteten Entwicklung geführt hat, kann für zukünftige Krisen und Probleme von großer Bedeutung sein.

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