In dieser Beitragsserie berichtet der Psychologe Gert Kowarowsky von den Erfahrungen aus seiner therapeutischen Praxis.
Wahrscheinlich kennst du das alte Sprichwort: "Wenn du mit dem Finger auf andere zeigst, zeigen drei auf dich zurück …" Sich über andere aufzuregen oder sie abzustempeln ist ein Verhalten, das jeder in seinem Leben schon einmal an den Tag gelegt hat. Doch tut das in den meisten Fällen weder den anderen, noch uns selbst gut. Wie kann es dir leichter gelingen, andere in ihrer Andersartigkeit zu ertragen? Darum geht es in meinem Beitrag.
"Ich könnt' den Kerl mit seiner arroganten Art grad‘ auf den Mond schießen!"
"Wie der rumläuft – voll peinlich!"
"Die ist doch echt 'ne Nervensäge – mit der will ich nichts zu tun haben!"
Solche oder ähnliche Aussagen voller Abscheu, Wut, Be- und Verurteilen anderer höre ich fast jeden Tag im Rahmen von Therapiesitzungen.
Interessant ist es dann, im weiteren Therapieverlauf immer wieder zu entdecken, dass genau das, was der Einzelne als ganz besonders verdammungswürdig beim anderen wahrnimmt, häufig identisch ist mit den eigenen abgelehnten Persönlichkeitsanteilen.
Stelle dir deine Persönlichkeit als einen Omnibus vor, in dem die verschiedensten Persönlichkeitsanteile mitfahren. Jene abgelehnten Anteile deiner Gesamtpersönlichkeit kann man in diesem Bild als Schwarzfahrer bezeichnen, die sich im Kofferraum oder unter der Sitzbank versteckt haben oder gar auf dem Dachgepäckträger unbemerkt mitfahren und im geeigneten oder ungeeigneten Moment das Steuer an sich reißen.
Dein Gegenüber wundert sich dann nicht selten darüber, welch unvertraute Seiten sich plötzlich an dir zeigen. Nein – das ist nicht dein "wahres Gesicht". Aber es ist AUCH ein Teil deiner Persönlichkeitsvielfalt. Ja, es stimmt: Jeder von uns ist Viele. Jeder hat viele, viele, viele Gesichter.
Lasse dir diese tägliche kostenlose Möglichkeit zu intensiver Selbsterfahrung nicht entgehen. Achte ab jetzt einfach darauf, welche Verhaltensweisen anderer bei dir die "roten Knöpfe" drücken und Ärger, Abscheu, Ablehnung, innere Verurteilung, kurzum, ein sehr negatives Gefühl in dir auslösen. Welches Verhalten des anderen würdest du ganz besonders weit von dir weisen? Was würdest du "niemals" tun? Was würdest du "niemals" sagen? Über welches Verhalten anderer kannst du dich in ganz besonderem Maße aufregen? – Deine Selbsterkenntnis wird von Tag zu Tag zunehmen. Deine Schattenseiten werden dir jeden Tag vertrauter werden. Die vermeintlich nicht zu dir gehörenden Selbstanteile müssen sich nun nicht mehr im Kofferraum verstecken und können ihren gefährlichen Platz oben auf dem Dachgepäckträger verlassen und gemütlich ihren Sitz in deinem Persönlichkeitsomnibus einnehmen. Heiße sie willkommen im Club deiner Persönlichkeitsvielfalt! Dann musst du sie nicht mehr in anderen bekämpfen.
Dann kannst du schauen, was du brauchst, um deine berechtigten Wünsche nach Leben, Lieben, Lachen erfüllen zu können, ohne die Mithilfe der schwierigen Gesellen in dir. Dann kannst du experimentieren, wie du die helle Seite in dir fördern und leben kannst, ohne die dunkle Seite in dir zu verleugnen.
Dann wirst du feststellen, wie leicht es ist, klar zu dir selbst zu sagen: "Stopp! – Meine Sicht auf den anderen, mein eigenes Verhalten hier und jetzt gefällt mir nicht!" – und dann, ohne dich dafür zu verurteilen, wieder in alte ungute Muster abgeglitten zu sein, einfach das zu tun und zu sagen, was für dich stimmiger und angemessener ist.
Dann wirst du auch feststellen, wie viel leichter es ist, klar zu anderen zu sagen: "Stopp! – Deine Sichtweise auf andere, dein Verhalten hier und jetzt gefällt mir nicht!" – ohne dabei den anderen als Mensch durch und durch ablehnen und verurteilen zu müssen.
Wenn du erkennst, wie oft du deine eigenen Schattenseiten auf andere projizierst, wird es dir leichter fallen, anderen gegenüber toleranter zu sein.
Heißt das, dass wirklich alles, was du an anderen ablehnst, auch in dir selbst vorhanden ist? Nein, das heißt es nicht immer. Aber ein prüfender Blick nach innen lohnt auf jeden Fall. Ganz besonders, wenn es eher belanglose Dinge sind, die dich auf die Palme bringen, die starke Emotionen in dir auslösen. Wenn jedoch jemand entgegen deinem inneren Wertekompass handelt, ist es natürlich, stimmig und gesund, das abzulehnen und deine Stimme dagegen zu erheben.
Ein weiterer Mechanismus, der es uns oft so schwer macht, offen und unvoreingenommen mit anderen umzugehen, hat seine Wurzel in einer Übertragung. Dabei überträgst du im wahrsten Sinne des Wortes etwas auf den anderen, was gar nicht zu ihm gehört. Wenn der neue Kollege aussieht wie dein strenger Mathelehrer von damals, redet wie er und auch noch die gleichen Handbewegungen macht, dann ist es wirklich nicht leicht, in ihm nicht den strengen Mathelehrer zu sehen und ihn nicht instinktiv schon bei der ersten Begegnung mit jeder Zelle deines Körpers abzulehnen.
Die Herausforderung liegt nun darin, dir klar zu machen: "Er sieht zwar aus wie mein Mathelehrer – aber es ist der neue Kollege Johannes Graf. Ich werde nun besonders aufmerksam sein für all die kleinen oder großen Unterschiede, in denen er sich ganz eindeutig anders verhält und ganz eindeutig anders tickt als mein Mathelehrer von damals."
Projektion: also dem anderen ganz besonders krumm zu nehmen, was du bei dir selbst ablehnst, und Übertragung: im anderen jemanden zu sehen, der in deiner eigenen Lebensgeschichte einmal eine große (und unangenehme) Bedeutung für dich hatte. Wenn du auf diese beiden Mechanismen achtest, dann fällt es dir sicherlich leichter, andere Menschen zu akzeptieren. Nämlich als Mensch, der ebenso wie du Mensch ist, mit vielen verschiedenen Seiten. Und das schließt selbstverständlich nicht aus, immer wieder "Nein!" zu sagen zu Einstellungen und zu Verhaltensweisen, die du nicht gut und richtig findest.
Dein
Gert Kowarowsky
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DANKE für Ihre sehr umsichtig, wohlwollend und klar formulierten Beiträge. Ich bin immer wieder von Neuem sehr berührt, welche Themen und Worte tief bei mir ankommen und mir helfen, mich anzunehmen und zu weiten! Ein grosses Lebensgeschenk 🙏