Einwände willkommen, aber konstruktiv! – #140

In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wieso Einwände zu weniger Fehlern und besseren Entscheidungen führen – wenn sie konstruktiv und offen kommuniziert werden.

Einwände willkommen, aber konstruktiv! – #140
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Elisabeth, eine Pädagogikstudentin, kam völlig verzweifelt zu ihrer ersten Therapiestunde. In ihrer Arbeitsgruppe war eine Mitstudentin, mit der sie ein gemeinsames Semesterprojekt zu bearbeiten hatte, die aber ihre Ausführungen vehement gegen jegliche Einwände verteidigte und zu keinerlei Änderungen an ihrem Konzept bereit war. Deren kategorisches "Keine Einwände, bitte!" ließ Elisabeth jedes Mal verstummen, obwohl sie sich ansonsten als recht selbstsicher eingestufte. In dieser Situation fühlte sie sich zurückversetzt in ihre Kindheit, als ihr Vater mit genau denselben Worten jegliche Diskussionen in der Familie über seine Ideen unterband.

Sie wünschte sich in der Therapie sowohl eine tiefgehende, ihrem Bedürfnis nach Theorie entsprechende Argumentation, weshalb ein Einwand gegen "Keine Einwände!" ethisch stimmig ist, als auch praktische Verhaltenshinweise, wie sie sich zukünftig ihrer Kommilitonin gegenüber effektiver verhalten könnte.

Was sagt die Philosophie zu Einwänden?

Da sie sich sehr für die indische Kultur interessierte, diskutierten wir zuerst, welchen Stellenwert Einwände in der indischen Philosophie haben: In der Purva Mimamsa, einer der sechs klassischen Schulen der indischen Philosophie, spielt nämlich die Methode der Einwände eine zentrale Rolle. In den Texten der Mimamsa-Philosophie werden Einwände systematisch genutzt, um "absolute Wahrheiten", wie sie in vielen vedischen Texten zu finden sind, zu analysieren und zu interpretieren. Durch das Einbringen von Einwänden wird sichergestellt, dass "heilige Regeln" nicht blind akzeptiert, sondern gründlich durchdacht und logisch überprüft werden.

In der westlichen Philosophie fanden wir eine entsprechende Ermutigung zum Widerspruch in einer 1784 verfassten Schrift des Königsberger Philosophen Kant, in der er Menschen auffordert, selbstständig zu denken, ohne sich blind auf Autoritäten zu verlassen:

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen."

Ohne Einwände und Kritik – mehr Fehlentscheidungen und Manipulation

Psychologisch konnten wir gemeinsam analysieren, wie es überhaupt dazu kommt, dass Menschen keine Einwände zulassen wollen: Wenn jeder immer und bei jeder Gelegenheit Widerspruch äußert, droht die Gefahr der Handlungsunfähigkeit. Es scheint dann verlockend, das Zusammenleben vereinfachen und Streitigkeiten minimieren zu wollen, indem Einwände einfach nicht zugelassen werden – vor allem dann nicht, wenn dadurch effiziente Maßnahmen ergriffen werden können, ohne durch endlose Diskussionen wertvolle Zeit zu verlieren. 

Dennoch ist auch aus psychologischer Sicht der Verzicht auf Einwände mit mehr Nachteilen als Vorteilen verbunden: Ohne kritische Stimmen bleibt jede Beziehung, jede Familie, jede berufliche, politische oder religiöse Gruppierung anfällig für Fehlentscheidungen und Manipulation. Bei allem zeitlichen Aufwand, der in der Diskussion unterschiedlicher Meinungen liegt, ist der freie Austausch von Argumenten essenziell, denn ohne Widerspruch bleiben Fehler unentdeckt und alternative Sichtweisen ausgeblendet. Das "Verbot" von Einwänden würde letztendlich die völlige Unterdrückung und damit eine Forderung nach blindem Gehorsam bedeuten.

Durch konstruktive Einwände erreichen wir unsere Ziele besser

Für ein gesundes Zusammenleben ist sowohl Einheitlichkeit als auch Widerspruch nötig. Ständiger Streit ist ebenso schädlich wie ein völliger Mangel an Kritik. Und genau hier setzt die psychologische Notwendigkeit ein, gutes Kommunikations-Handwerkszeug zur Verfügung zu haben, um konstruktiv unterschiedliche Sichtweisen reflektieren zu können. Es bedarf einer bewussten Gestaltung von Debatten, in denen Respekt und zensurfreie Argumentation im Vordergrund stehen. 

Anstatt sie zu blockieren sollten Einwände, um die gemeinsame Zielerreichung voranzubringen, idealerweise nicht destruktiv, sondern konstruktiv sein.

Also statt"„Keine Einwände, bitte!", besser: "Einwände willkommen – aber konstruktiv!"

Hilfreiche Kommunikationstechniken, um seine Meinung einzubringen

Elisabeth hatte nun genügend Argumente, um zielstrebig auf eine Änderung ihres bisherigen Verhaltens hinzuarbeiten: "Nur wie? Wie überwinde ich mein Verstummen? Was genau kann ich sagen, wie kann ich mich angemessen verhalten, wenn mir mein Gegenüber so autoritär den Mund verbietet?"

Aus dem Selbstsicherheitstraining gibt es eine Reihe bewährter Strategien, um eigene Ansichten, eigene Einwände trotz autoritärem Einwands-Verbot vorbringen zu können. Es ist gut, sie zu kennen und im Rollenspiel einzuüben.

Wenn also das nächste Mal jemand zu dir sagt: "Keine Einwände, bitte!", kannst du auswählen, welche Reaktion dir für die konkrete Situation am angemessensten erscheint:

Die Rückfragetechnik

Frage dein Gegenüber: "Was genau spricht dagegen, einen Einwand vorzubringen?" oder "Was würde schlimmstenfalls geschehen?" oder "Was genau wäre daran so schlimm, auf einen Einwand von mir einzugehen?"

Die Technik der Ich-Aussagen

Formuliere Ich-Aussagen: "Mein Bedürfnis nach … ist damit nicht erfüllt", „Ich sehe das anders, weil …“, oder "Für mich ist es wichtig, dass verschiedene Meinungen gehört werden."

Die Gerade-weil-Technik

"Gerade weil an dieser Stelle kein Einwand geäußert werden soll, ist es mir besonders wichtig, dass …"

Die Charme-Offensive-Technik

Strategie 1: Dreh dich weg und sage zu einer fiktiven dritten Person: "Hey, eigentlich ist die da ganz nett. Aber jetzt macht sie mich gerade zur Schnecke."
Strategie 2: Versuche, das Genervte, das Leid hinter der autoritären Ansage zu entdecken: "Mensch, was ist denn mit dir los? Ich weiß ja, dass du eigentlich nicht so bist …"

Die Technik des wiederholten Forderns

Wiederhole deinen Standpunkt ganz ruhig und ohne dich auf eine emotionale Auseinandersetzung einzulassen. Aggressionsfrei deutest du damit darauf hin, dass dir dein Einwand wichtig ist und du gehört werden möchtest.

Validieren und den eigenen Standpunkt darlegen

Lass die Aussage der anderen Person stehen. Sage, dass du verstehst, dass die andere Person es so erlebt, wie sie es erlebt. Und zeige auf, weshalb dir dein Standpunkt wichtig ist. Zum Beispiel: "Ich höre, dass du die Diskussion hier am liebsten für beendet erklären würdest, und dennoch ist es mir wichtig, hier klar zu sagen, was mein Einwand ist."

Die Vergangenheits-Befreiungstechnik

Diese Technik besteht darin, dir bewusst zu machen, dass du jetzt im aktuellen Jahr bist und genau hier und jetzt mit einem anderen Menschen als damals in Kontakt bist. Du bist nicht mehr das kleine Mädchen oder der kleine Junge von damals. Du bist jetzt so alt, wie du bist, und du verfügst über mehr Wahlmöglichkeiten als damals, auf die Situation zu reagieren. Du bist nicht mehr klein und hilflos und ausgeliefert wie damals als Kind. 

Für Elisabeth, die ja ansonsten über eine gute Selbstsicherheit verfügt, war das die hilfreichste Technik. Jedes Mal, wenn ihre Kommilitonin ihr gegenüber "Keine Einwände, bitte!" herausschleuderte und sie sich wieder klein und verstummend wie damals bei ihrem Vater fühlte, wandte sie diese Technik an und sagte sich:

"Jetzt ist Mittwoch, der XX. Mai 20XX, es ist 17.00 Uhr und ich bin hier in der Uni im Gruppenraum. Ich kann ihr sagen, was ich gegen ihren Vorschlag konstruktiv einzuwenden habe."

Erlaube dir deine Einwände gegen "Keinen Einwand, bitte!"
Ganz entspannt im Hier und Jetzt.

Dein Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis ...

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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Inhalt des Beitrags 
 Was sagt die Philosophie zu Einwänden?
 Ohne Einwände und Kritik – mehr Fehlentscheidungen und Manipulation
 Durch konstruktive Einwände erreichen wir unsere Ziele besser
 Hilfreiche Kommunikationstechniken, um seine Meinung einzubringen
 Erfahrungen aus der Praxis ...
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 Folge 3: Achtgeben auf seinen Körper