In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, warum wir dem Glück nur dann begegnen, wenn wir die Gelassenheit, Akzeptanz und Einsicht entwickeln, es loszulassen.
Manche meiner älteren Patientinnen haben in ihrer Kindheit und Jugend noch ein Poesiealbum besessen. Dieses wurde so vielen wohlmeinenden Menschen wie möglich vorgelegt, mit der Bitte um einen positiven, weisen oder gar segnenden Spruch. Schulfreundinnen und Schulfreunde, Tanten, Onkel, Omas, Opas und sonstige Verwandte und Bekannte kamen dieser Aufforderung auch mehr oder weniger bereitwillig nach. Die Qualität dieser Eintragungen hatte entsprechend der Verschiedenartigkeit der Menschen eine sehr große Bandbreite. Vielen Großeltern meiner heute schon selbst älteren Patientinnen galt der Mops damals, trotz seines manchmal mürrisch erscheinenden Gesichtsausdrucks, als ein Symbol für Gemütlichkeit und Wohlbefinden, ein Tier, das sich in seiner Lebensfreude und seinem Glück durch nichts aus der Ruhe bringen ließe. Entsprechend oft fand sich in den Poesiealben der 1950er Jahre die Empfehlung, es ihm gleichzutun.
Ilse, die ihr Poesiealbum in die Therapiestunde mitgebracht hatte, zeigte es mir lächelnd: "Sehen Sie, hier steht es – meine Oma, die mir aus tiefstem Herzen wünschte, dass ich immer glücklich sein möge, hat es mir in mein Album geschrieben: Lebe glücklich, lebe froh, wie der Mops im Haferstroh!"
Was ist von diesem Glücksrezept zu halten? Was fehlt? Was wäre heute ein passenderer Eintrag in einem Poesiealbum 2.0? Gemeinsam analysierten wir, was es mit dem Ziel, immer glücklich sein zu wollen, auf sich hat und was ein angemesseneres Ziel sein könnte.
Obwohl offensichtlich jedes menschliche Wesen Unglück vermeiden und Glück erfahren möchte, sind die Vorstellungen davon, was es für das Glück braucht, sehr verschieden. Und das nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch auf dem Lebensweg eines einzelnen Menschen zu unterschiedlichen Zeiten. Ilse erinnerte sich, wie sehr sie die Beschädigung ihres Puppenwagens, als sie etwa vier Jahre alt war, geschmerzt hatte. Mit 14 war dieser Puppenwagen längst nicht mehr in ihrem Bewusstsein, geschweige denn, dass er unabdingbar zu ihrem Glück dazugehört hätte.
Erfolg, finanzielle Freiheit, materielle Errungenschaften sind für viele Menschen, die in westlichen Kulturen groß geworden sind, vermeintliche Garanten für dauerhaftes Glück. In vielen anderen Kulturen hingegen empfinden Menschen Glück weniger als etwas, was sie erreicht haben oder besitzen. Glück wird vielmehr als tiefes Verbundensein mit dem Urgrund des Seins empfunden, als Verbundenheit mit der Natur und harmonischer Eingebundenheit in der Gemeinschaft.
Glücklich zu sein ist oft mit der Vorstellung von innerem Frieden und Gelassenheit verknüpft, die auch in objektiv schwierigen Lebenssituationen aufrechterhalten werden können. Anstatt etwas zu haben, das dann festgehalten werden muss, um das Glück dauerhaft zu „besitzen“, ist es aus dieser Sicht wünschenswerter, eine Haltung der Offenheit für den Fluss des Lebens zu entwickeln. Es so zu nehmen, wie es kommt – und es leicht zu nehmen, falls es unerfreulich, aber nicht zu ändern ist. Durch radikale Akzeptanz empfinden wir eine Situation, die nicht unseren Wünschen entspricht, zwar weiterhin als schmerzlich, aber durch das Loslassen-Können leiden wir nicht darunter.
Gelassenheit als Basis des glücklichen Seins? Wieder und wieder loslassen? Ist es nicht paradox, loszulassen, wenn es doch gerade so schön ist? Hat Nietzsche nicht recht, wenn er schreibt: "Alle Lust will Ewigkeit!"?
Natürlich wollen wir alle, dass das, was hier und jetzt schön und erfüllend ist und uns Glückseligkeit erfahren lässt, für immer andauern möge. Wir weigern uns wiederholt anzuerkennen, dass aber das einzige Konstante im Leben der Wandel ist. Obwohl es so ist. Zum Glück. Zu unserem Glück. Alles bleibt immer anders.
Wenn wir bereit sind mitzufließen, wenn wir uns spielerisch einlassen können auf das, was hier und jetzt gerade stattfindet, können wir den Flow spüren, den der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi sehr anschaulich beschrieben hat als einen Zustand völliger Vertiefung und völligen Aufgehens in einer Tätigkeit. Er beschreibt es so:
"Flow ist der Zustand, in dem Menschen so in eine Tätigkeit vertieft sind, dass nichts anderes mehr von Bedeutung zu sein scheint. Die Erfahrung ist so befriedigend, dass man sie auch um ihrer selbst willen machen würde, selbst wenn sie keine anderen Vorteile mit sich brächte."
Bereits Friedrich Schiller ermutigte dazu, das verbissene Streben nach Glück, das vermeintlich dauerhaft immer erst in der Zukunft erreicht werden kann, zugunsten einer spielerischen Haltung den Alltagsaufgaben gegenüber aufzugeben, als er schrieb:
"Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."
Goethe geht in seinem Werk „Faust“ sogar so weit, dass er den Gelehrten Faust mit Mephisto einen Pakt eingehen lässt, in dem festgelegt wird, dass er selbst dem Teufel gehören soll, sobald er einen Wirklichkeit gewordenen Wunsch festhalten und auf Dauer besitzen möchte. Goethe war offensichtlich überzeugt davon, dass das Festhalten-Wollen der Glückszerstörer Nummer eins ist, als er sich diese Geschichte ausdachte. Sollte also Faust je einen Moment als so vollkommen empfinden, dass er sagen würde: "Verweile doch! Du bist so schön!", dann soll Fausts Seele Mephisto gehören. (Am Ende geht die Geschichte noch gut aus. Denn obwohl Faust später tatsächlich diesen folgenschweren Satz ausspricht, schützen ihn die Engel vor Mephisto mit ihrem Plädoyer für mildernde Umstände: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erretten …“.)
Teresa von Avila, eine bedeutende Mystikerin und Kirchenlehrerin des 16. Jahrhunderts, die sich intensiv mit der Suche nach innerer Erfüllung und Glückseligkeit beschäftigte, fand in Bezug auf das Glück eine wundervolle Formulierung, jenseits von Haben und Sein, Festhalten und Loslassen:
Glück ist ein leises Singen der Seele.
Sie verweist damit auf den inneren Erlebenszustand des Glücklichseins und befreit den Blick von seiner vergeblichen Suche im Außen nach Elementen, die dauerhaftes Glücklichsein angeblich garantieren sollen.
Der Vergleich mit einem leisen Singen vermittelt auch ein schönes Gefühl der dazu benötigten Abwesenheit von Druck. Glück lässt sich nicht zwingen. Glück lässt sich nicht festhalten oder gar einzementieren. Es bedarf der Freiheit. Der Schwingungsfreiheit mit dem Fluss des Lebens. Es darf auch manchmal ganz zart, leise, fast unhörbar in uns schwingen und singen. Deshalb bedarf es offensichtlich immer wieder des Abstands zu unserer inneren Wortmaschine. Und es bedarf immer wieder der Pausen, der Momente der Einkehr, des Rückzugs aus der Hektik und des Lärms der Welt, des Selbstrückbezugs.
Ein französischer Kollege, François Lelord, schrieb den Roman Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück. Seine Hauptfigur, die auszog, das Glück in mehreren Ländern der Erde zu erforschen, lässt er einige interessante Details mit nach Hause bringen, die das leise Singen der Seele unterstützen und vor dem Verstummen bewahren. Seine Hauptfigur erkennt, dass
"Hmm, all das gibt mir einen ganz neuen Blick auf meinen Mops im Haferstroh", meinte Ilse am Ende unseres Diskurses über das Glück. "Irgendwie steckt in diesem Bild ja schon etwas von der glücksfördernden, entspannten Gelassenheit dem Treiben der Welt gegenüber. Und wenn der Mops im Haferstroh glücklich lebt, liegt er ja nicht nur den ganzen Tag faul darin herum, wie es mir lange Zeit schien, sondern spielt, erkundet, paart sich vielleicht, bringt dort Kinder zur Welt, betreut und pflegt die Kranken, freut sich über die Genesenden, betrauert die Gestorbenen und verliert in seiner Akzeptanz all dessen, was ist, das leise Singen seiner Seele nicht – jedenfalls nicht auf Dauer. Wenn ich all diese Überlegungen zum Glück zusammenfasse, würde ich mir jetzt selbst in mein Poesiealbum schreiben:
Liebe Ilse,
lebe glücklich, leb' im Flow, wie der weise Mops im Haferstroh.
P.S. Halt nix fest, denn ändern tut sich's sowieso.“
Und was schreibst du dir in DEIN Poesie-Album?
Dir das Allerbeste,
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
Lust auf mehr positive Denkanstöße in Beiträgen, Podcasts, Videos und Lebensweisheiten? Bestelle den kostenlosen PAL-Newsletter und werde eine oder einer von 40.000 Abonnenten.
PAL steht für praktisch anwendbare Lebenshilfe aus der Hand erfahrener Psychotherapeuten und Coaches. Der Verlag ist spezialisiert auf psychologische Ratgebertexte für psychische Probleme und Krisensituationen, aber auch auf aufbauende Denkanstöße und Inspirationen für ein erfülltes Leben. Alle Ratschläge und Tipps werden auf der Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie, der Gesprächstherapie sowie des systemischen Coachings entwickelt. Mehr zu unserer Arbeit und Methodik hier
PAL Verlagsgesellschaft GmbH
Rilkestr. 10, 80686 München
Tel. für Bestellungen: +49 89/ 901 800 68
Tel. Verlag: +49 89/379 139 48
(Montag–Freitag, 9–13 Uhr)
E-Mail: info@palverlag.de
psychotipps.com
partnerschaft-beziehung.de
lebensfreude-app.de
Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht, dann berichte davon und hilf so auch anderen auf dem Weg in ein zufriedenes Leben. Bitte beachte dabei unsere PAL- Nettiquette, die sich an der allgemeinen Internet-Nettiquette orientiert: Uns ist es wichtig, dass alle Inhalte, auch Kommentare und Beiträge von Leserinnen und Lesern, in respektvollem und wertschätzendem Ton verfasst sind und dem Zweck dienen, sich und andere anzuregen und weiterzubringen. Wir wollen verhindern, dass Menschen vorsätzlich verletzt bzw. Falschaussagen oder versteckte Werbungen verbreitet werden. Daher erlauben wir uns, etwaige Beiträge, die in diese Richtung gehen, zu streichen.