Sharing – die heilende Kraft des Mitteilens – #150

In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, dass es sich lohnt, sich zu öffnen und seine Gefühle anderen mitzuteilen. Denn dann erfahren wir tiefe Beziehungen, Verbundenheit und Freiheit.

Sharing – die heilende Kraft des Mitteilens – #150
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Sharing – mitzuteilen, was in dir ist – scheint oft schwieriger, als es tatsächlich ist. Andere wissen zu lassen, was du denkst und fühlst, was du möchtest und was nicht, wirkt für viele Menschen wie ein gefährliches Unterfangen. Die Angst vor Ablehnung, Kritik oder gar Entwertung hält uns zurück. Doch tatsächlich ist das Mitteilen einer der wichtigsten Faktoren für seelische Gesundheit.

Sich mitteilen – die Tür zu mehr Freiheit und Nähe

Sharing heißt: den anderen spüren lassen, was dich bedrückt und was dich erfreut. Es bedeutet, die selbstgewählte Isolation im Elfenbeinturm vermeintlicher Sicherheit zu verlassen und dich einzulassen auf den Fluss des Lebens. Genau darin liegt für viele Menschen, die zu mir in Therapie kommen, das notwendige Ziel: den Mut zu entwickeln, sie selbst zu sein und mit all ihren Schwächen und Stärken sichtbar zu werden. Denn wer mitteilt, worüber er oder sie sich freut, worüber sie oder er traurig oder ärgerlich ist, was er oder sie befürchtet und erhofft, öffnet die Tür zu mehr Freiheit und Abenteuer, zu mehr Intimität und heilender Nähe.

Wie sehr Sharing verändern kann, zeigt folgendes Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Simon, 25 Jahre, ist das, was man einen coolen "einsamen Wolf" nennen könnte. Er arbeitet in einer großen IT-Firma und verbringt seine Wochenenden meist in Clubs und Bars. Dort wirkt er selbstbewusst: stylische Kleidung, lockerer Spruch auf den Lippen, umgeben von Bekannten. Doch hinter dieser Fassade fühlt er sich oft einsam. "Ich brauche niemanden", sagt er gern. Aber im Stillen merkt er, dass die Coolness ihn vom echten Kontakt zu anderen trennt. Beziehungen bleiben oberflächlich, Nähe meidet er.

In der Therapie wagt er, die Maske zu lüften und zuzugeben, dass es ihm sehr schwerfällt zu sagen, was wirklich in ihm vorgeht, statt oberflächlich zu bleiben.

Wenn wir echte Begegnungen zulassen, gewinnen wir Verbundenheit

Nach anfänglichem Zögern ist er bereit, Sharing als Experiment auszuprobieren. Er versteht, dass es nicht darum geht, immer und überall gegenüber jeder und jedem seine Gefühle auszuschütten, sondern einen neuen Weg zu beschreiten, echte Begegnungen zuzulassen. Auf praktischer Ebene bemühte er sich, darauf zu achten, statt cooler Sprüche kleine reale Aussagen zu machen, wenn er nach seinem Befinden gefragt wurde. Er berichtete z. B., dass er sich dazu überwinden konnte, einem Arbeitskollegen am Ende des Tages eine ehrliche Bemerkung mitzuteilen. Statt nur wie sonst "Alles gut" zu sagen, meinte er wahrheitsgemäß: "Heute war ich gestresst, weil das Projekt nicht so lief, wie ich mir das vorgestellt hatte." Er war angenehm überrascht, dass er daraufhin nicht wie befürchtet von seinem Kollegen als Loser angesehen wurde. Im Gegenteil: Sein Kollege zeigte nicht nur Verständnis, sondern gab sogar noch selbst etwas Persönliches preis. 

Dies motivierte ihn, etwas zu tun, was er bisher noch nie getan hatte. Er lernte eine neue "Fremdsprache". Er lernte, seine Gefühle zu benennen, da er erfahren hatte, dass sich zu zeigen mit dem, was wirklich ist, nicht Schwäche bedeutet, sondern die Möglichkeit schafft, echte Verbundenheit zu erleben.

Wenn wir Schwächen zeigen, macht uns das authentischer

Abends notierte sich Simon deshalb eine Zeit lang die drei stärksten Gefühle, derer er sich tagsüber bewusst geworden war. Anfangs standen da nur Worte, die er schon immer benutzt hatte, wie: müde, genervt und gelangweilt. Mit der Zeit lernte er, seine Liste zu erweitern, indem er genauer hinspürte, was er in sich zu entdecken vermochte: unsicher, aufgeregt, hoffnungsvoll, traurig, interessiert, widerwillig, freudig, zornig, überrascht, beschämt, ängstlich, begeistert, verliebt … Je mehr Gefühle und Stimmungen er in sich wahrnehmen konnte, desto besser gelang es ihm, treffende Worte dafür zu finden. Dieses erweiterte Vokabular wiederum half ihm dabei, seine innere Welt zusehends genauer wahrzunehmen – und sich mehr und mehr mitzuteilen. Immer öfter brachte er den Mut auf, Freundinnen und Freunden nicht nur von seinen Erfolgen zu berichten, sondern auch von seinen Niederlagen, von seinen Unsicherheiten bei manchen Anforderungen in seinem Job oder davon, dass er sich manchmal ausgegrenzt fühlte. Die Reaktionen waren nur manchmal, nicht wie befürchtet ausnahmslos, ablehnend – oftmals waren sie neutral oder schufen sogar eine unerwartete Verbindung.

Besonders groß war für ihn die Überwindung, eine gute Freundin in der Disco anzusprechen, die er heimlich sehr schätzte. Anstatt wie sonst cool zu bleiben, sagte er: "Ich fühle mich ziemlich hohl und unwohl, wenn wir immer nur oberflächlich reden. Eigentlich würde ich dich gerne auch mal außerhalb vom Club treffen." Von dieser Ehrlichkeit war sie verblüfft und ein wenig überfordert, aber auch berührt. Und ja, sie verabredeten sich zu einem Kaffee.

Sharing ist der Weg zu tiefen Beziehungen

Simon erkannte, dass seine Stärke nicht darin lag, immer nur die coole Seite zu zeigen, sondern auch seine verletzliche Seite. Er erlebte Sharing als Türöffner, als Weg hin zu wirklichem, lohnenswerterem Austausch. Es machte ihn nicht weniger männlich, sondern authentischer. Er merkte, dass er tiefergehende Beziehungen aufbauen konnte und dass sein „Einsamer-Wolf“-Image eher ein Schutzschild war als ein Ausdruck von Freiheit.

Simon erlebte Sharing als Bruch mit seiner bisherigen Rolle. Er blieb derjenige, der gerne ausgeht und Spaß hat. Doch er hatte gelernt, dass echte Nähe entsteht, wenn er sich zeigt. Das Teilen seiner inneren Welt gibt ihm etwas, wonach er sich lange gesehnt hat: Verbundenheit.

Lass dich von mir einladen zu einer Vier-Wochen-Sharing-Challenge. Im besten Fall wirst du feststellen, dass Sharing nicht nur ein psychologisches Werkzeug ist, sondern eine Lebenshaltung. Lass dich einladen zu dieser Challenge. Lass dich einladen, dein Herz zu öffnen für die Welt – im Wissen, dass wir in unserer Offenheit nicht ärmer, sondern reicher werden.

Dein Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis ...

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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 Wenn wir echte Begegnungen zulassen, gewinnen wir Verbundenheit
 Wenn wir Schwächen zeigen, macht uns das authentischer
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