In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie es dir gelingt, dich nicht mehr zu verstecken, sondern den Mut zu finden, authentisch zu leben.
Miriam kam zu ihrer ersten Sitzung und fragte ganz verzweifelt: "Wie schaffe ich es nur, nicht mehr ich selbst zu sein?" Lukas wiederum eröffnete seine Therapie mit dem Satz: "Wie schaffe ich es nur, endlich ganz ich selbst zu sein?" Trotz so unterschiedlicher, geradezu entgegengesetzter Ziele verliefen beide Therapien ziemlich ähnlich.
Bei Miriam, 30, Fachangestellte in einer Steuerkanzlei, wurde schnell deutlich, dass sie sich wünschte, so angepasst zu sein wie ihre Kolleginnen und Freundinnen, die es in vieler Hinsicht einfacher hatten als sie. In ihr hatte sich jedoch schon von klein auf alles gewehrt, sich anzupassen, vorbestimmte Wege zu gehen, bestimmte Rollen zu erfüllen, bestimmte "Masken" zu tragen. Tief in ihr lebte schon immer die Überzeugung: "Ich bin nicht dazu geboren, um eine weitere Kopie all der anderen zu sein. Ich wurde geboren, um ich selbst zu sein."
Miriam schwankte deshalb häufig hin und her zwischen zwei Extremen. Oft sagte sie Ja bei jeder an sie gerichteten Bitte. Und ansonsten gar nichts, um die anderen nicht zu irritieren – bis sie es nicht mehr aushielt und meist zu aggressiv mit ihrem Standpunkt oder ihrem Nein zu einer Bitte herausplatzte. Darauf folgte dann die Unzufriedenheit, sich wieder einmal selbst ins Aus geschossen zu haben.
Wir fanden die Quadratur des Kreises in den beiden akademischen Begriffen "autonome Sozialbezogenheit" und "soziale Autonomie". Miriam erkannte schnell, dass es kein sinnvolles Therapieziel wäre, zu lernen, nicht mehr sie selbst zu sein. Sinnvoll dagegen wäre sehr wohl das Ziel, klar zu spüren, was sie in einer gegebenen Situation selbst will und was nicht, und gleichzeitig offen zu bleiben für die Standpunkte der anderen.
Da Miriam sehr visuell veranlagt ist, brachte sie zur nächsten Sitzung ein Poster mit, auf das sie zwei Kreise gezeichnet hatte. Einen Kreis für ihr Inneres, einen für die Gemeinschaft. Zwischen den Kreisen hatte sie drei kleine Pfeile gemalt, die die beiden Kreise mit den in Goldfarbe geschriebenen Worten verbanden: Austausch, Respekt, Nähe.
In den weiteren Sitzungen formulierte Miriam konkrete Sätze, um mit ihnen ihre Bedürfnisse authentisch und direkt auszudrücken: "Mir gefällt das nicht", "Ich brauche einen Moment für mich", "Ich würde lieber …". Sie spürte dabei deutlich die Erleichterung und den Fluss ihrer inneren Stärke, wenn sie mit gutem Gewissen und klaren Worten rechtzeitig und aggressionsfrei Grenzen setzte, ohne die Angst, andere vor den Kopf zu stoßen. Sie verstand, dass es keinen Widerspruch darstellt, klar die eigenen Bedürfnisse zu vertreten und gleichzeitig mit den anderen in Verbindung zu sein.
Bei einem Kinoabend mit ihrer besten Freundin erzählte sie ihr von ihrer neuen Übung: "Ich versuche gerade, mich authentisch zu verhalten. Mich da anzupassen, wo es mir ehrlich erscheint, und da nein zu sagen, wo es für mich nicht stimmt. Ich experimentiere gerade damit, ich selbst zu sein. Ich bin neugierig, wie das unsere Freundschaft verändert." Ihre Freundin war von ihrer Ehrlichkeit tief berührt. Miriam konnte deutlich spüren, dass ihre Authentizität zwar manchmal für andere schwierig sein kann, aber auch zu einer viel tieferen emotionalen Verbindung beitragen kann.
In ihrem Alltag beobachtete sie, wie ihre neue, bewusste Verhaltensweise zu neuen Erfahrungen führte: am Arbeitsplatz, im Freundeskreis, sogar in der Familie. Sie entdeckte, dass mit anderen verbunden zu sein nicht darin besteht, sich zu verbiegen und einem perfekten Rollenbild zu entsprechen, sondern echte Verbindungen zu schaffen. Ihr innerer Kreis und der Kreis der Gemeinschaft verschmolzen an manchen Stellen – kein Kampf mehr, sondern ein Tanz im Miteinander.
Lukas, 25, Student der Architektur, freundlich, intelligent, nahezu unsichtbar, begann seine Therapie mit einer anderen Ausgangssituation als Miriam. Er litt unter dem Gefühl, alles zu sein, nur nicht er selbst. Er litt unter seiner Angst, sich zu zeigen. In Gruppen hielt er sich zurück und sagte selten, was er dachte. Nicht, weil er nichts zu sagen hatte, sondern weil er sich selbst beigebracht hatte, andere nicht zu irritieren: "Ich wollte niemandem auf die Nerven gehen. Ich dachte, je stiller ich bin, desto angenehmer bin ich."
Er fühlte sich innerlich gehemmt, unauthentisch, fremdbestimmt. Seine Aufgabe war es, sich seiner Glaubenssätze bewusst zu werden, seine irrationalen Grundideen und automatischen Verhaltensmuster zu hinterfragen und sich die Erlaubnis zu geben, sich zu zeigen mit all dem, was ihn ausmachte. So bestand eine seiner ersten Forschungsaufgaben darin, sich seiner Gedanken bewusst zu werden in Situationen, in denen er schwieg, obwohl er sehr wohl etwas zu sagen gehabt hätte.
Lukas schrieb deshalb täglich auf, wann er sich zurückhielt und welche Gedanken ihm in diesen Situationen durch den Kopf gingen. Dabei erkannte er, dass es immer wieder die gleichen oder zumindest ähnliche Gedanken waren, die ihn als vermeintliche Wahrheiten daran hinderten, sich zu zeigen mit dem, was er dazu zu sagen hatte. Seine Lieblingsgedanken waren:
Sein zweites Selbstentwicklungsprojekt bestand deshalb darin, sich auf Verhaltensexperimente einzulassen und genau das zu tun, was er glaubte, dass es zur sozialen Katastrophe und ins soziale Aus führen könnte. Er setzte sich selbst einige herausfordernde Aufgaben, die für ihn soziale Risikoübungen darstellten: in der Vorlesung eine Frage stellen; in der Arbeitsgruppe seine Zusatzideen für das Gruppenreferat äußern; in der WG sagen, was ihn störte; in geselliger Runde seine Meinung äußern – und sie stehen lassen.
Erstaunlicherweise kam er mit Erfahrungen aus diesen Verhaltensexperimenten zurück, die seinen eigenen Befürchtungen deutlich widersprachen: "Am Anfang habe ich gezittert. Aber niemand war wütend. Einige haben sogar zustimmend reagiert. Ich habe gelernt: Ich kann Raum einnehmen, ohne dass mich die anderen für arrogant halten oder sogar ablehnen."
Seine dritte Übung bestand darin, ein Stärken-Tagebuch zu führen. Wöchentlich hielt Lukas die Situationen fest, in denen er sich getraut hatte, das zu sagen, was er zu sagen hatte, und das zu tun, was ihm wichtig war. Er notierte, wann er er selbst war – und wie gut sich das im Nachhinein für ihn anfühlte.
Auf der Basis seiner neuen Erfahrungen kam Lukas zu den für ihn zuvor undenkbaren veränderten Grundüberzeugungen: "
Ich kann anders sein, ohne falsch zu sein. Ich dachte immer, ich muss der Leise sein. Aber ich darf auch laut sein, wenn es stimmig für mich ist.
Heute nimmt Lukas sich den Raum, den er braucht – ohne sich aufzudrängen, aber auch ohne sich zu verstecken. Seine Energie, seine Kreativität, sein Humor – all das darf jetzt sichtbar sein. In seiner letzten Therapiestunde sagte er lachend: "Ich habe endlich aufgehört, mich zu dimmen, nur damit andere nicht geblendet sind."
Authentizität ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für ein erfülltes Leben. Wer sich selbst treu bleibt, lebt nicht nur ehrlicher, sondern auch mutiger. Die Sehnsucht nach Echtheit ist in jedem Menschen angelegt: der Wunsch, gesehen zu werden – nicht für das, was wir vorgeben zu sein, sondern für das, was wir wirklich sind.
Dich selbst zu finden, ist kein Ziel, das du irgendwann erreicht hast und dann abhaken kannst. Es ist ein Weg, eine fortwährende Entscheidung, jeden Tag ein Stück authentischer zu leben. Miriam und Lukas zeigen, dass es möglich ist: Du kannst aufhören, dir aus Rücksicht, aus Angst, aus falsch verstandener Anpassung das Leben schwer zu machen, indem du dich selbst unnötigerweise klein hältst.
Du wurdest geboren, um du selbst zu sein, und nicht, um dich zu verstecken, dich darzustellen als jemand, der du nicht bist, dich als irgendetwas Großartiges zu beweisen oder dich herunterzuregeln, dich zu dimmen.
Deine Aufgabe ist es nicht, dich zu verbiegen, damit es andere mit dir leichter haben oder damit du von ihnen anerkannt wirst. Deine Aufgabe ist es, dich ganz zu entfalten – in deiner Stärke, deiner Echtheit, deiner Würde. Denn in dem Moment, in dem du aufhörst, jemand anderes sein zu wollen, beginnt dein wahres Leben.
Mit Achtsamkeit, Mut und der Bereitschaft, dir selbst wieder zuzuhören, erlaubst du dir, das zu leben, was dein Geburtsrecht ist:
Du bist geboren, um du selbst zu sein.
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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