Funktionierst du noch oder lebst du schon? – #146

In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie es dir gelingt, wieder bewusst wahrzunehmen, wann du nur funktionierst und wann du wirklich lebst.

Funktionierst du noch oder lebst du schon? – #146
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Wenn viel in deinem Leben funktioniert, scheint das eine gute Grundlage für ein gutes Leben zu sein. Atmung, Blutdruck, Verdauung, Kraft, Ausdauer, Koordination, Reflexe – wenn all das funktioniert, scheint dein Leben in Ordnung zu sein. Wenn jetzt auch noch in deinem Job das meiste funktioniert und deine Beziehung funktioniert – was willst du dann mehr?

Leben!

„Upps, grübel, verwirr“ – so oder ähnlich würden jetzt die Gedankenblasen über dem Kopf einer Comicfigur lauten nach diesem ersten Abschnitt. 

Warum sein Leben zu leben so wichtig ist

In der Therapie spiele ich gerne mit der Bedeutung und der Herkunft von Wörtern. Nicole, die inzwischen gelernt hatte, neugierig zu sein auf den Ursprung von Wörtern, kam mit folgender Erkenntnis in die nächste Therapiestunde: Das deutsche Verb "funktionieren" stammt vom französischen fonctionner, was wiederum auf das Hauptwort fonction, "Funktion", "Aufgabe", "Tätigkeit" zurückgeht. Dieses französische Wort, so fand sie heraus, geht wiederum zurück auf das lateinische functio, das "eine Handlung, eine Tätigkeit, eine Aufgabe ausführen" bedeutet. Alles, was richtig läuft und seinen Zweck erfüllt, funktioniert demnach gut.

Zu funktionieren scheint folglich nichts Schlechtes zu sein. Es ist die Fähigkeit, deinen Alltag zu strukturieren, Verantwortung zu übernehmen und Ziele zu erreichen. Das aber konnte Nicole mehr, als ihr lieb war. Ihr Leben funktionierte tatsächlich. Ihre grundlegende Deprimiertheit ließ sie jedoch immer wieder die Frage stellen: Bedeutet zu funktionieren schon zu leben?

Unter "Leben" fand Nicole bei ihrer Suche nach der Herkunft des Wortes einen spannenden Entwicklungsweg seiner Bedeutung. Vom ursprünglichen Leib (leip, leubh, welches "weiter bestehen", "bei etwas bleiben" bedeutet) über lif, liban hin zu Leben.

Sie entdeckte, dass die Idee, "sein Leben leben" mehr bedeutet als bloß "am Leben bleiben". Dieser Bedeutungswandel von Leben entwickelte sich jedoch erst viel später. So fand Nicole bei Walther von der Vogelweide, der zwischen 1170 und 1230 lebte, in mehreren seiner Minnelieder und Sprüche nicht nur das Thema Liebe, sondern auch das Thema êre (Ehre) und das Thema guot leben. Gut zu leben, bedeutete ihm, ehrenvoll zu leben. Ohne Ehre konnte er sich wohl ein gutes Leben nicht vorstellen, denn er schrieb:

"Wer Ehre liebt, der lebt gut,
wer sie verliert, der lebt vergeblich."

Selbstverwirklichung als Teil eines sinnerfüllten Lebens

Doch ständig an Ehre zu denken, fand Nicole alles andere als reizvoll. Viel mehr konnte sie anfangen mit den Ideen der Psychologen Maslow und Rogers, die den Begriff der Selbstverwirklichung als sinnvolles Ziel einer bewussten Lebensführung ansahen.

In neuerer Zeit verbinden tatsächlich viele Menschen den Begriff Leben mit der Idee von "MEIN Leben leben". Maslow und Rogers vertraten die Idee, dass ein gutes Leben darin besteht, das eigene Potenzial, die Talente und Möglichkeiten so weit wie möglich zu entfalten und das zu werden, was man seiner inneren Natur nach sein kann. In diesem Sinne lebst du ein gutes Leben, wenn du dir selbst so oft wie möglich Gelegenheiten verschaffst, das zu tun, wofür du brennst, was dich begeistert, was dich zufrieden macht und dich Sinn spüren lässt. Udo Lindenberg fasste diesen Gedanken auf seine ihm eigene coole Art so zusammen: "Mach dein Ding!"

Verlasse den Autopilot-Modus und werde dir deines Lebens bewusst

Lukas berichtete mir folgendes kleines morgendliches Ereignis, das ihn konfrontiert hatte mit seiner in letzter Zeit wegen Überarbeitung allzu oft vorkommenden Unbewusstheit:

"Neulich saß ich in der Bahn, starrte auf mein Smartphone und klickte mich mechanisch durch E-Mails, während draußen der Sonnenaufgang am Himmel sein morgendliches zartes Farbspiel spielte. Irgendwann hob ich den Blick und die Magie dieser kurzen Übergangszeit war schon vorbei. Ich hatte sie verpasst. Nicht, weil ich keine Zeit hatte, sondern weil ich im Autopilot-Modus war. Da stellte sich mir die Frage: Funktioniere ich gerade nur oder lebe ich eigentlich noch?"

In diesem Moment spürte Lukas schmerzlich, wie sehr sich in den letzten Monaten, die von Terminen, To-do-Listen und ständiger Erreichbarkeit geprägt waren, die Grenze zwischen "funktionieren" und "bewusst leben" immer verschwommener geworden war. Er sagte: "In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich zurzeit nur noch funktioniere. Ich stehe morgens auf, greife als erstes zum Smartphone, arbeite meine Aufgaben ab, esse zwischendurch und versuche, mich in der kurzen freien Zeit zu erholen, bevor der Zyklus am nächsten Morgen – meist viel zu früh und unausgeschlafen ¬ von Neuem beginnt. Ich fühle mich in meinem eigenen Leben wie ein Zahnrad in einer großen Maschine, sehr effizient, aber emotionslos. Ich funktioniere zurzeit nur noch. Aber ich möchte wieder bewusst leben. Ich möchte mich bewusst entscheiden, wieder bewusst zu leben."

Übung: Wann funktioniere ich und wann lebe ich bewusst?

Lukas entschloss sich die nächsten zwei Wochen vom Aufstehen bis zum Zubettgehen jeweils für jede Stunde in ein bis drei Worten festzuhalten, wie er diese Stunde verbracht hatte. Abends markierte er dann mit einem Farbmarker die Stunden, die für ihn stressig waren, mit Rot, die besonders erfüllend und mit dem Gefühl, ich lebe mein Leben, verbunden waren mit Gelb und den sonstigen Fluss des Alltags mit Grün.

Dies half ihm, seinen verengten Blick zu weiten. Es half ihm dabei, nach Mustern Ausschau zu halten und zu prüfen, ob sie bewusstloses Funktionieren oder bewusstes Leben waren. Es half ihm dabei, seine Checklisten nicht mehr nur brav abzuhaken, sondern zu fragen, warum diese Listen überhaupt existierten.

Nach diesen vierzehn Tagen, an denen er das Stundenprotokoll geführt hatte, berichtete er: "Ich habe in den letzten zwei Wochen wieder mehr einzelne Momente bewusst wahrgenommen, als in den vielen letzten Monaten zuvor. Ich konnte mich wieder viel mehr an Kleinigkeiten erfreuen und alltägliche Entscheidungen klarer und bewusster treffen. Dieser mir altbekannte Kalenderspruch, dass der Weg das Ziel ist, fing in meinen Zellen wieder an zu blinken. Ich spürte es förmlich in all meinen Zellen, dass zu leben nicht nur das Erreichen von Zielen ist, sondern das Erleben des Weges dorthin. Wenn sich für mich etwas nicht mehr stimmig anfühlte, war ich bereit, das Risiko einzugehen, es auf eine andere als die bisher vermeintlich einzig mögliche Art und Weise anzugehen. Ich spürte diese neue, lebendigere Bereitschaft, dabei auch mögliche Fehler zuzulassen und aus ihnen zu lernen. Vor allem aber half mir das bewusste Beobachten, was ich Stunde für Stunde tat, um mit mir selbst wieder mehr in Verbindung zu stehen, meine eigenen Wünsche, Werte und Grenzen wieder bewusster wahrzunehmen."

Stabilität UND Offenheit für Wandel – das ist die Balance für ein gutes Leben

Die Frage "Funktionierst du noch oder lebst du schon?" ist eine Einladung, eine Einladung zur Selbstreflexion. Sie lädt dich ein, deinen Alltag ehrlich zu betrachten:

Erfüllt dich, was du tust, oder tust du es nur, weil du glaubst, du musst es tun?
Wann hast du zuletzt etwas Neues ausprobiert – nicht, weil es sinnvoll war, sondern weil es dich begeistert hat?
Lebst du nach deinen eigenen Vorstellungen oder nach denen anderer?

Vielleicht ist deine Antwort nicht eindeutig. Vielleicht befindest du dich gerade in einer Phase, in der du dich bewusst entschieden hast zu funktionieren, um Sicherheit zu schaffen, um Projekte zu vollenden, um Verpflichtungen oder Versprechungen nachzukommen, um Menschen in Not zu helfen

Das einzig Konstante im Leben ist jedoch der Wandel. Bleibe bewusst, um den Wind des Wandels zu erspüren. Wir alle brauchen immer wieder auch Phasen, in denen wir uns dem Leben hingeben, mit all seinen Unvorhersehbarkeiten, seinem Chaos und seiner Schönheit.

Die Kunst des Lebens besteht darin, beides in Balance zu halten: Stabilität einerseits und Offenheit für Wandel und Überraschungen andererseits.

Zu tun, was es zu tun gibt, und im freien Raum dazwischen immer wieder zu sein. So zu funktionieren, dass es Raum zum Leben gibt, und so zu leben, dass das Funktionieren nicht sinnlos wird. 

Und vielleicht liegt der Unterschied zwischen Funktionieren und Leben genau in dem einen Blick aus dem Fenster, den wir uns heute nicht mehr entgehen lassen.

Dein Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis ...

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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Inhalt des Beitrags 
 Warum sein Leben zu leben so wichtig ist
 Selbstverwirklichung als Teil eines sinnerfüllten Lebens
 Verlasse den Autopilot-Modus und werde dir deines Lebens bewusst
 Übung: Wann funktioniere ich und wann lebe ich bewusst?
 Stabilität UND Offenheit für Wandel – das ist die Balance für ein gutes Leben
 Erfahrungen aus der Praxis ...
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