In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, warum Ärger eine Quelle von Authentizität sein kann und wie du einen mit unterdrückter Wut und unkontrollierten Wutanfällen umgehen kannst.
Wut hat üblicherweise keine gute Presse. Sie gilt in unserer Gesellschaft oft als problematische Emotion. Sie wird mit Kontrollverlust, Aggression und Zerstörung assoziiert. Doch aus medizinisch-psychologischer Sicht gehört Wut zu den grundlegenden Basisemotionen des Menschen – ebenso wie Freude, Trauer oder Angst. Sie ist nicht zufällig entstanden, sondern hat eine tief verwurzelte biologische und psychologische Funktion. Wer Wut ausschließlich unterdrückt, läuft Gefahr, nicht nur seelisch, sondern auch körperlich Schaden zu nehmen. Der bewusste Umgang mit Wut kann hingegen helfen, authentischer, kraftvoller, lebendiger zu sein und wieder mehr Lebensfreude zu erleben.
Wenn du wütend wirst, geht dein Körper in einen Zustand maximaler Aktivierung. Dein Körper schüttet Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol aus, dein Puls steigt, deine Muskeln spannen sich an, deine Aufmerksamkeit richtet sich auf das Wesentliche. Wut bereitet dich körperlich auf Kampf oder Abwehr vor.
Berechtigte Wut zu unterdrücken, kann jede Menge negative Folgen haben. Bei vielen meiner Patientinnen und Patienten, die ganz offensichtlich ihre Wut unterdrückten, führte dieses chronische Verdrängen zu Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Spannungskopfschmerzen. Bei anderen war dies einer der Hauptfaktoren, der zu Depression, Burnout oder Angststörungen führte, da sie sich damit das "Neinsagen" und ihre Selbstbehauptung blockiert hatten.
Wenn du meinst, deine Wut nicht äußern zu dürfen, ist die Gefahr groß, dass du dich zurückziehst, passiv-aggressives Verhalten entwickelst oder dass die Wut, wenn du sie zu lange unterdrückt hast, zu unangemessenen Eruptionen führt, die du hinterher bereust. Beides belastet deine sozialen Beziehungen sehr.
Wut ist also nicht das Problem an sich. Das Problem ist falscher Umgang mit ihr – entweder durch unkontrollierte Ausbrüche oder durch chronisches Unterdrücken.
In vielen Therapien, in denen es um das Thema Wut geht, wird deutlich, dass Menschen immer dann die heftigste Wut empfinden, wenn ein ihnen ganz besonders wichtiges Bedürfnis nicht beachtet oder gar mit Füßen getreten wird. Wut ist immer der Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses. Bei dem einen ist es das Bedürfnis, positiv gesehen zu werden, bei der anderen eher das Bedürfnis dazuzugehören, Hilfe und Unterstützung zu erhalten, Freiräume leben zu dürfen oder zu erleben, dass die eigenen Grenzen respektiert werden.
Wutgefühle sind häufig ein starkes Signal dafür, dass dir wichtige Bedürfnisse von anderen missachtet wurden.
Wahrzunehmen, wann und worüber du wütend wirst, ist damit ein erster wichtiger Schritt, um rechtzeitig nein zu sagen und eigene Grenzen klar zu setzen. Deine Wut zeigt dir, welches Bedürfnis dir im Moment besonders wichtig ist. Wut rechtzeitig wahrzunehmen, hilft dir dabei, dich selbst intensiver zu spüren. Unterdrückte Wut dagegen führt zu Gefühllosigkeit und innerer Leere.
Anna (23, frisch gebackene Grundschullehrerin) hatte gelernt, ihre Wut nicht zu zeigen. Schon als Kind bekam sie vermittelt, lieb und angepasst zu sein. In Beziehungen und im Studium führte das dazu, dass sie häufig überlastet war, weil sie nie nein sagte.
In der Verhaltenstherapie lernte sie zunächst, die körperlichen Signale ihrer Wut wahrzunehmen: Herzklopfen, innere Hitze, das Bedürfnis, wegzugehen. Wenn sie Wut bewusst wahrnahm, sagte sie sich jedes Mal: "Meine Wut zeigt meine Grenze. Ich achte sie und sage klar, was ich brauche." Schritt für Schritt übte sie in Rollenspielen, ihre Bedürfnisse in Ich-Botschaften zu äußern ("Ich fühle mich unter Druck, wenn ich alle Aufgaben übernehme – ich brauche Unterstützung").
Zum Therapieabschluss berichtete Anna, dass sie sich nun insgesamt lebendiger und klarer fühle. Ihre Beziehungen sind stabiler, weil sie nicht wie früher zu lange innerlich Groll ansammelt, ohne anzusprechen, worüber sie sich ärgert, sondern offen kommuniziert, womit sie sich unwohl fühlt.
Tobias (30, Facharbeiter für Lagerlogistik) dagegen neigte zum Gegenteil: Er explodierte schnell und schleuderte oft unangemessene Worte auf seine Partnerin und seine Kollegen – manchmal flog sogar der ein oder andere Gegenstand an die Wand. Hinter seiner aggressiven Wut steckte oft das Gefühl, nicht gehört zu werden.
In der Therapie lernte er, Stopp-Signale einzubauen. Den größten Nutzen konnte er dabei aus der Technik ziehen, bewusst dreimal tief durchzuatmen oder "aus dem Felde zu gehen", also den Raum kurz zu verlassen, bevor er reagierte. Beim tiefen Durchatmen sagte er sich zusätzlich innerlich: "Ich atme tief. Meine Wut darf da sein – sie vergeht, und ich bleibe ruhig."
Zusätzlich nutzte er den Hinweis, sich tatsächlich jeden Tag 20 Minuten zu nehmen, um seine gelernte Entspannungstechnik anzuwenden. Zudem gewöhnte er sich an, Situationen neu und kritisch zu überprüfen. Statt sofort "Das ist eine Frechheit!" zu denken, fragte er sich: "Könnte das ein Missverständnis sein? Was würde ich jetzt einem guten Freund raten, dem gerade das Gleiche widerfährt wie mir?" Oder er überlegte, wie jetzt wohl ein cooler Typ auf diese Situation reagieren würde, der sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen lassen würde.
Mit der Zeit gelang es ihm, seine Wut als Hinweis auf ein unerfülltes Bedürfnis zu verstehen und sie ruhiger zu äußern. Wenn er sich dennoch in der ein oder anderen Situation zu schnell, zu intensiv nach oben katapultiert hatte und vor Wut am liebsten platzen oder etwas an die Wand werfen wollte, sagte er sich: "Boah ey – in meiner Wut steckt jetzt verdammt viel Lebenskraft. Die verwandle ich jetzt in Bewegung, die mir guttut." Dann setzte er sich abends auf sein Rad, zog die Laufschuhe an oder er packte seine Schwimmsachen und kraulte 44 Bahnen. Tobias beschreibt, dass er sich nun stärker, selbstbewusster, aber nicht zerstörerisch fühlt – und im Alltag mit seiner Freundin und seinen Kollegen wieder viel mehr Freude und Unbeschwertheit erlebt.
"Wut tut gut" – wenn sie nicht zerstört, sondern bewusst genutzt wird. Medizinisch schützt sie vor dem gefährlichen Dauerstress des Unterdrückens. Psychologisch stärkt sie Selbstbewusstsein, Klarheit und die Fähigkeit, Grenzen zu setzen. Sozial ermöglicht sie ehrliche Beziehungen, die nicht von stiller Kränkung oder aggressivem Ausbruch vergiftet werden.
Die Beispiele von Anna und Tobias zeigen: Egal, ob unterdrückt oder überschießend – Wut kann in gesunde Bahnen gelenkt werden. Dann wird sie zur Ressource, die Frau wie Mann hilft, sich lebendiger zu fühlen, mutiger aufzutreten und authentischer zu leben.
Wenn du lernst, Wut bewusst und rechtzeitig wahrzunehmen und sie willkommen zu heißen, integrierst du damit ein Stück ursprüngliche Lebenskraft – und öffnest dir die Tür zu mehr Lebensfreude mit dir und anderen.
Genieße deine energievolle Lebendigkeit!
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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