In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, dass es sich lohnt, unsere Gedanken kritisch zu hinterfagen. Er gibt praktische Tipps, um inneren Abstand zu gewinnen und bessere Entscheidungen zu treffen.
Emily erzählte mir in der Therapiestunde, dass sie ihre beste Freundin Laura bei ihrem letzten gemeinsamen Kaffeebesuch mit folgender Frage überraschte: "Du, Emily, darf ich dich mal was Persönliches fragen? Du gehst doch jetzt schon seit Monaten regelmäßig in Therapie. Ich meine, es klingt bestimmt blöd, aber was lernt man da eigentlich? Redest du nur über deine Sorgen – oder kommt da auch wirklich was Handfestes bei raus?"
Ich weiß, viele Freundinnen, Freunde, Bekannte und Verwandte beschäftigt diese Frage, wenn sie wissen, dass sich jemand in Therapie befindet, aber sie wagen es selten, so direkt und offen zu fragen. Jetzt war ich gespannt auf Emilys Antwort. Und diese, so berichtete sie mir, war folgende: "Weißt du, Laura, das Wichtigste, was ich bisher gelernt habe, passt in einen Satz: Glaube nicht alles, was du denkst.“ Daraufhin habe Laura ihre Stirn gerunzelt und gemeint: „Hm …, klingt ein bisschen nach so einem Kalenderspruch."
Emily versuchte dann, es ihr genauer zu erklären: "Also, stell dir vor, dein Kopf ist wie ein Radiogerät, das ständig sendet. Ununterbrochen. Manche Gedanken sind hilfreich – andere sind wie schiefe Töne, die dich nerven oder dir sogar Angst machen. Früher dachte ich: Wenn ein Gedanke auftaucht, dann muss er wahr sein. Aber das stimmt nicht. Gedanken sind erstmal nur mentale Ereignisse – kleine Hypothesen, die überprüft werden sollten. Das heißt, ich tue gut daran, nicht alles ernst zu nehmen, was mir so durch den Kopf geht."
Und sie hat ihr dann den wissenschaftlichen Hintergrund dieser Sichtweise zu vermitteln versucht, so wie sie ihn verstanden hatte.
"Und das ist nicht nur meine persönliche Meinung", erklärte sie Laura, "das ist eine der Grundlagen der kognitiven Verhaltenstherapie, die der Psychotherapeut Aaron T. Beck entwickelt hat. Er hat herausgefunden, dass viele Menschen unter sogenannten automatischen Gedanken leiden. Das sind spontane Bewertungen, die fast reflexartig auftauchen – oft negativ, oft übertrieben. Zum Beispiel: Ich schaffe das nie oder Alle finden mich komisch. Die fühlen sich real an, aber sie sind oft verzerrt. Albert Ellis, ein anderer Therapeut, hat schon früher gesagt: Die alten Stoiker hatten recht. Es sind nicht die Ereignisse, die uns fertig machen – sondern das, was wir darüber denken.
Er leitete daraus das bekannte therapeutische ABC-Modell ab:
A für das auslösende Ereignis, B für die Bewertung, und C für die Konsequenz.
Wenn mich jemand schief anschaut (A) und ich denke: Der hasst mich (B), dann fühle ich mich verletzt oder unsicher (C). Aber wenn ich denke: Vielleicht hat er einfach einen schlechten Tag, dann bin ich gleich viel gelassener."
Emily berichtete mir, dass sie sich sehr über Laura gefreut hatte, die ihr an dieser Stelle zu erkennen gab, dass sie voll verstanden hatte, worum es ging. "Also quasi: Nicht das Leben selbst stresst uns, sondern der Kommentar, den unser Gehirn dazu abgibt", hatte Laura das Gehörte zusammengefasst.
"Ganz genau!", strahlte Emily und fuhr fort: "Du sagst es! Und das Spannende ist: Diese Kommentare sind oft einseitig, wie ein schlechter Sportkommentator, der nur die Fehler sieht."
Jetzt wollte es Laura ganz genau wissen: "Hast du dafür ein Beispiel, wo du das bei dir selbst gemerkt hast?"
Diese Bitte konnte Emily leicht erfüllen. Sie musste ja einfach nur über die praktischen Veränderungen berichten, die sie sich schon in der Therapie erarbeitet hatte: "Früher habe ich bei der Arbeit oft gedacht: Wenn ich in der Präsentation einmal stocke, halten mich alle für unfähig. Allein der Gedanke hat mich so nervös gemacht, dass ich kaum noch frei sprechen konnte. Inzwischen habe ich gelernt, diese Gedanken zu hinterfragen: Stimmt das wirklich? Haben andere nicht auch mal kleine Hänger? Wie wahrscheinlich ist es, dass alle nur darauf achten? Und siehe da, ich habe gemerkt: In Wahrheit fanden die meisten es völlig normal. Manche haben mir sogar Feedback gegeben, dass sie die Präsentation klar und spannend fanden."
Sie erzählte ihr auch von ihren früheren meist negativen Gedanken, wenn sie auf eine Textnachricht nicht sofort eine Antwort bekam: "Ich konnte mir nichts anderes vorstellen, als es für die Wahrheit zu halten, dass mein Gegenüber keine Lust mehr auf mich hat, sich von mir genervt fühlt oder sonstigen negativen Quatsch. Und das hat mich dann natürlich jedes Mal richtig runtergezogen. Inzwischen habe ich mir jedoch angewöhnt, diesen Gedanken gegenüber eine kritische Haltung einzunehmen und alternative Erklärungsmöglichkeiten zuzulassen. Inzwischen", so erzählte ich Laura, "denke ich viel öfter auch Gedanken wie: Vielleicht ist sie beschäftigt. Vielleicht ist ihr Akku leer. Und weißt du was? In acht von zehn Fällen war es genau das. Die negative Deutung war völlig unnötig."
Und Emily ging noch weiter: "Als mich Laura dann fragte, wie ich das schaffe, immer wieder belastende Gedanken auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, war das eine gute Gelegenheit für mich, mir meines ganzen Handwerkskoffers bewusst zu werden, den ich in der Therapie kennengelernt habe und den ich inzwischen im Alltag mit Erfolg zum Einsatz bringe. Ich zählte ihr die verschiedenen Methoden von Beck und Ellis auf, die mir dabei helfen, nicht alles zu glauben, was ich denke:
"Aufschreiben hilft mir! Ich führe regelmäßig rationale Selbstanalysen mit der ABC-Methode durch, vor allem nach Situationen, in denen ich mich ganz besonders belastet fühle. Ich schreibe dann auf:
A: Was ist geschehen?
Was würde ich auf einem Video sehen und hören? Was genau ist die Ausgangssituation gewesen?
B: Wie bewerte ich das, was da geschehen ist?
Welche Gedanken gehen mir dazu durch den Kopf?
C: Wie fühle ich mich mit diesen Gedanken?
Welche Reaktionen nehme ich in meinem Körper wahr? Wie verhalte ich mich, wenn ich die Situation so bewerte, wie ich sie im Moment spontan bewerte?
Dann überlege ich: "Wenn mir genau solch eine Situation (oder eine ähnliche) noch einmal passieren würde: Wie möchte ich mich dann gerne fühlen? Was wünsche ich mir, dass dann in meinem Körper geschieht? Wie möchte ich mich zukünftig verhalten, so dass ich mit meiner Reaktion auf die Situation zufrieden bin?
Und jetzt schaue ich mir die Gedanken, die Bewertungen an, die mir spontan als vermeintliche Wahrheit, als vermeintlich beste und einzige Sichtweise auf die Ausgangssituation durch den Kopf gegangen sind und prüfe:
Bei meiner Suche nach alternativen Bewertungen der Situation helfen mir dann solche Überlegungen wie:
Gibt es vielleicht auch eine andere Sichtweise?
Was würde ich zu meiner besten Freundin sagen, wenn sie mir die gleichen Gedanken, die ich jetzt gerade über die Situation denke, genau so mitteilen würde? Wie würde eine Person denken, die mit der gleichen Situation souveräner, kompetenter umgeht als ich?
Ein Trick, mit dem ich in Abstand zu meiner inneren Wortmaschine kommen kann, besteht darin, mir z. B. zu sagen: Jetzt im Moment bin ich zwar völlig überzeugt davon, dass das, was ich denke, wahr ist und nichts als die Wahrheit, und es mir gerade auch nicht möglich ist, irgendetwas anderes als das, was ich denke, zu denken – aber eines ist mir dennoch bewusst: Zum Glück sind es nur Gedanken, nur Gedanken, nur Gedanken…
Ein weiterer Trick, mit dem ich in etwas Abstand zu meiner inneren Wortmaschine kommen kann, besteht auch darin, mir z. B. zu sagen: Jetzt im Moment bin ich mir bewusst, dass ich z. B. gerade den Gedanken habe, eine Versagerin zu sein. Anstatt es als vermeintliche Wahrheit in mir wiederholt hämmern zu lassen: Ich bin eine Versagerin, ich bin eine Versagerin, ich bin eine Versagerin. Das macht sofort einen Unterschied.
Ich werde mir bewusst, dass es zuallererst ein Gedanke ist, den ich im Moment denke. Es ist keine Tatsache. Es ist einfach nur der Gedanke, den ich jetzt gerade denke.
Die wirksamste Technik gegen meinen Glauben, dass alles, was ich denke, auch wahr sein muss, sonst würde ich es doch nicht denken, ist der sogenannte Reality-Check.
So oft es geht, überprüfe ich in der Realität, ob das, was ich denke oder gedacht habe, auch wirklich so ist. Wenn ich z. B. denke: Melde dich lieber nicht in der Gruppe, sonst lachen dich alle aus – dann probiere ich es aus. Und meistens passiert gar nichts Schlimmes. Im Gegenteil: Oft reagieren die Leute interessiert oder ich bekomme sogar positive Rückmeldungen zu meinem Beitrag.
Und wenn mich ein fieser Gedanke ganz besonders hartnäckig plagt, dann ziehe ich meinen Humor-Joker: Ich schreibe innerlich übertriebene Schlagzeilen für die größte deutsche Boulevardzeitung wie z. B.: Emily blamiert sich für alle Ewigkeit! Das hilft mir immer wieder sehr dabei, die Lächerlichkeit meiner Gedanken zu entlarven.“
Emily schaute mich zufrieden an nach ihrem Bericht über das Gespräch mit Laura. "Durch die direkte Frage von Laura, was ich in der Therapie gelernt habe, kann ich es jetzt leicht auf den Punkt bringen:
Gedanken sind zuallererst Gedanken. Gedanken sind nicht automatisch wahr.
Manche sind hilfreich, aber nicht wahr. Manche sind wahr, aber nicht hilfreich. Die besten Gedanken sind hilfreich und wahr. Die Kunst ist, unterscheiden zu lernen, Abstand zu gewinnen und bewusstere Entscheidungen zu treffen. Und das Beste: Jede und jeder kann das lernen. Es braucht nur etwas Geduld, Übung – und die Bereitschaft, dem eigenen Kopf nicht alles blind zu glauben.
In diesem Sinne
Glaub nicht alles, was du denkst!
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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