In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie es dir gelingt, deine Talente zu entdecken, indem du achtsam in dich hineinhörst und neugierig auf deine kreativen Potenziale bist.
Anne saß deprimiert in meiner Sprechstunde: "Alle meine Freundinnen sind so kreativ. Luisa strickt wunderbare Pullover, Nina malt großartige Aquarelle und Daria sitzt gerade über ihrem ersten selbstverfassten Gedichtband. Ich habe keine Ahnung, wo die ihre Ideen hernehmen. Ich wäre wirklich auch gerne auf irgendeiner Ebene kreativ, aber ich weiß einfach nicht, wie ich meine eigene Quelle der Kreativität aktivieren könnte."
Wenn es dir so oder ähnlich geht wie Anne, lass uns gemeinsam nach dieser Quelle Ausschau halten. Es gibt immer wieder einen Moment, den du vielleicht kennst: Du sitzt still, mitten im Alltag, und für einen flüchtigen Augenblick wird alles weit. Gedanken werden leiser, der Atem tritt in den Vordergrund. Nichts drängt. Und doch ist da eine Ahnung – eine Ahnung von etwas, das möglich wäre. Etwas, das durch dich entstehen will.
Wir Verhaltenstherapeut:innen nennen diesen Zustand manchmal einen achtsamen Moment oder einen Moment kognitive Präsenz. Diese Momente der Stille sind wie Wendeflächen, auf denen dein Geist zwischen automatischen Reaktionen und neuen, bewussten Entscheidungen wählen kann. Was hier geschieht, ist nicht weniger als der Beginn einer neuen inneren Bewegung – vom Überlebensmodus hin zum Entfaltungsmodus.
Und vielleicht geschieht dabei noch mehr. Denn nicht nur die Psychologie, auch die Physik und uralte Bewusstseinslehren sprechen von einem Feld, in dem alles möglich ist. Die Quantenphysik nennt es das vereinheitlichte Feld – ein unsichtbarer Urgrund, aus dem alle Kräfte, Teilchen und Erscheinungen hervorgehen. In der vedischen Philosophie ist es das Feld aller Möglichkeiten, reines Potenzial jenseits von manifestierter Form. Und in der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie wird es oft einfach als Bewusstsein bezeichnet – nicht das Denken an sich, sondern das, was darunter liegt. Still. Wach. Offen.
Diese Konzepte sind keine reine Spekulation. In der kognitiven Verhaltenstherapie weiß man: Menschen wachsen nicht, weil sie "mehr" werden – sondern weil sie aufhören, sich durch alte Gedankenmuster zu blockieren.
Wachstum beginnt in der Stille. In der Lücke zwischen Reiz und Reaktion. In dem Moment, in dem du sagst: Vielleicht muss ich nicht einfach immer nur effektiver funktionieren. Vielleicht darf ich spielen. Vielleicht kann ich mir erlauben zu entdecken, was über das Alltägliche hinausgehend in mir ist.
Du musst dich nicht anstrengen, irgendetwas Großartiges, Neues zu erfinden. Du musst niemandem irgendetwas beweisen. Du kannst dir erlauben, dich auf das einzulassen, was längst in dir angelegt ist. Du kannst dir erlauben, es fließen zu lassen.
Denn, ja, es gibt Talente in dir, die verschüttet wurden unter Erwartungen, Selbstzweifeln, dem Wunsch nach Sicherheit oder dem Druck, eine perfekte Leistung abliefern zu müssen. Vielleicht hast du sogar irgendwann aufgehört daran zu glauben, dass du überhaupt irgendwelche Talente und kreative Quellen in dir tragen könntest.
Vielleicht hast du nie gelernt, wie man still wird, um diese innersten Impulse zu spüren, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken oder sie als Bewegungsimpulse in dir wahrzunehmen. Aber sie sind da. Nicht in ferner Zukunft. Nicht erst, wenn du "bereit genug" bist. Sondern jetzt – in diesem Moment. In dir. In jedem Menschen. Das Feld aller Möglichkeiten an der Basis deines Bewusstseins ist 24 Stunden, 7 Tage die Woche bereit, von dir betreten zu werden.
In der Verhaltenstherapie spricht man von Selbstwirksamkeit: dem Vertrauen, dass du auf dein Leben Einfluss nehmen kannst. Doch dieses Vertrauen entsteht nicht durch bloßes Denken – es wächst durch Erfahrung. Und die erste Erfahrung ist: In Momenten der Stille kannst du dich spüren. Im Innehalten kannst du der inneren Stimme Raum geben. Entspannungsübungen und Meditation sind der Königsweg, diesen inneren Raum zu betreten.
Sei neugierig auf dein eigenes kreatives Potenzial. Vielleicht liegt darin der tiefste Sinn von Kreativität: nicht irgendetwas Neues machen oder erfinden zu wollen – und schon gar nicht zu müssen –, sondern in dir zuzulassen, was längst möglich ist. Und das, was möglich ist, geht oft weit über das hinaus, was wir im engeren künstlerischen Sinne als kreativ sein bezeichnen. Es ist oft weit mehr, als Gedichte zu schreiben oder Bilder zu malen.
Die in der Stille sich offenbarende, neu gewonnene Kreativität kann sich auch subtiler ausdrücken: als spontanerer Umgang mit anderen Menschen, als kleine Veränderungen im Alltag, vielleicht nichts Spektakuläres, aber raus aus dem Trott – einen anderen Weg zur Arbeit gehen, neue Rezepte ausprobieren, mal vom Computer aufstehen und tanzen und, und, und. Erweiterungen entdecken in den oftmals jahrzehntelangen, eingefahrenen farblosen monotonen Wiederholungen der trauten und bequemen Abläufe des Alltagslebens. Eben farbenfrohe, lebendige, freudvolle Erweiterungen, geboren aus dem Lauschen auf die Impulse aus dem Feld aller Möglichkeiten.
Dieses Feld aller Möglichkeiten ist kein ferner Ort – es ist der stillste Punkt in dir. Dort, wo du nichts leisten musst. Dort, wo du einfach bist. Und wo das, was dich wirklich ausmacht, zu flüstern beginnt.
Lass diese zarten Impulse durch dich hindurchfließen wie durch einen hohlen Bambus.
Genieße deine Kreativität, genieße deine Lebensfreude, genieße deinen Tanz des Lebens – auf allen Ebenen!
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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