In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, es nie nur die eine Wahrheit gibt, sondern viele unterschiedliche und wie du mit subjektiven Wahrheiten von dir und anderen umgehen kannst.
Ist dir schon aufgefallen, dass die meisten Menschen Aussagen als OBJEKTIV wahr empfinden, wenn sie sagen: "Die Suppe ist zu salzig, der Kuchen schmeckt zu süß, das Kleid ist nicht schön, die Musik ist zu laut, dies oder das ist zu …" Nur ganz selten sagt jemand: "MIR ist die Suppe zu salzig, ICH finde den Kuchen zu süß, ICH finde das Kleid nicht schön, MIR ist die Musik zu laut, ICH beurteile dies oder das als …"
Die Frage in nahezu jeder Therapie ist deshalb nicht, was tatsächlich wahr ist, die sogenannte Tatsachenwahrheit, sondern was die Wirklichkeit ist. Das, was in dir wirkt von dem, was dir an Tatsachen auf deinem Lebensweg begegnet.
Jede:r nimmt die Welt durch die eigenen Sinnesorgane wahr und verarbeitet diese im Gehirn ankommenden Informationen auf der Basis der bisherigen Lebenserfahrungen, kulturellen Prägungen und persönlichen Grundüberzeugungen, Glaubenssätzen, Oberplänen – kurzum, mit dem eigenen persönlichen Mindset.
Wer sagt also die Wahrheit? Jeremy, der sagt: "Die Suppe ist zu salzig!" oder Mohana, die sagt: "Die Suppe ist viel zu fad, da fehlt doch jede Menge Salz!" Ganz offensichtlich gibt es hier keine objektive Wahrheit, sondern nur verschiedene individuelle Erlebnisweisen, die jeweils Wirklichkeit für die betreffende Person darstellen.
Wenn Wahrheit in jedem Gehirn konstruiert wird, stellt sich die Frage: Kann man dann überhaupt von DER Wahrheit sprechen?
Wir können mindestens drei Arten von Wahrheiten voneinander unterscheiden:
Subjektive Wahrheiten sind nie nur eine Wiedergabe von Tatsachen, sondern immer auch eine Stellungnahme zu den Tatsachen, eine ganz persönliche Interpretation der Bedeutung, die diese Tatsachen für mich haben. Hinzu kommen bewusste und unbewusste Verzerrungen durch die Wahl unserer Worte, mit der wir etwas beschreiben. Statt also Wahrheit als eine feststehende, universelle Tatsache zu betrachten, hilft es unserem Verständnis, dass geäußerte "Wahrheiten" in vielen Fällen der Kategorie "Subjektive Wahrheiten" angehören, also vor allem ganz persönliche Bewertungen objektiver Ereignisse sind.
Erlebst du "die Wahrheit", dass es "schrecklich" ist, den Bus verpasst zu haben? (subjektive Wahrheit)
Oder:
Erlebst du "die Wahrheit", dass es "laut Busfahrplan nun zwanzig Minuten dauern wird", bis der nächste Bus kommt? (objektive Wahrheit)
Diese unterschiedlichen Beschreibungen ein und derselben Situation haben tiefgreifende Auswirkungen sowohl auf dich selbst als auch auf andere.
Neigst du dazu, Ereignisse übertrieben zu beschreiben, sie zu verallgemeinern oder sie zudem auf dich selbst zu beziehen? Dann sind dir sicherlich solche Gedanken vertraut wie: "Der kommt doch immer stundenlang zu spät, nur um mich zu ärgern." Dies wäre so eine subjektive Wahrheit, mit der es weder dir noch deinem Gegenüber gutgehen würde.
Wenn es also verschiedene Arten von Wahrheiten gibt, mache es dir zur Gewohnheit, deine persönliche Sichtweise zu vorliegenden Tatsachen auch als solche sichtbar zu machen, indem du sagst:
"Mir gefällt es nicht, dass …; ich finde schön, dass …; meiner Meinung nach …"
Und wundere dich nicht, dass es zu jeder Sichtweise, zu jeder Überzeugung, zu jeder Aussage, fast immer auch eine völlig entgegengesetzte Sichtweise geben kann.
"Ja", meinte Lisa, "schön und gut! Aber es gibt doch auch Leute, die ganz bewusst sowas sagen wie: "Geh nach links", wenn sie nach dem Weg gefragt werden, obwohl sie wissen, dass der richtige Weg zum Ziel nach rechts führt. Das hat doch nichts mehr mit einer persönlichen Interpretation zu tun!“
Richtig, es gibt Menschen, die aus Boshaftigkeit oder um sich Vorteile zu verschaffen oder weil sie andere nicht leiden können oder manipulieren möchten, bewusst lügen. Und es gibt Situationen, in denen Menschen durch bewusstes Lügen Nachteile oder gar Bestrafungen für sich oder andere vermeiden wollen und deshalb absichtlich etwas sagen, was nicht den Tatsachen entspricht.
Hier kommen die sogenannten Notlügen ins Spiel. Die ethische Bewertung von Notlügen ist nicht einfach. Sie hängt stark vom Kontext und den Absichten ab. Jemanden vor ungerechtfertigter Verfolgung zu verstecken und gegenüber einem Verfolgenden zu behaupten: "Diese Person ist nicht hier!", wäre ein solches ethisch nicht zu kritisierendes Lügen.
Auf der anderen Seite bedeutet eine gute Absicht bei einer Notlüge nicht zwangsläufig, dass diese zu etwas Gutem führt. Wenn zum Beispiel ein Arzt einem schwerkranken Patienten Hoffnung macht, obwohl es kaum noch Aussichten auf Genesung gibt, kann dies einerseits dabei helfen, sein psychisches Wohlbefinden zu erhalten. Das gute, psychologisch so wichtige hoffnungsvolle Gefühl kann sehr wohl Kräfte freisetzen und das Immunsystem soweit positiv beeinflussen, dass damit tatsächlich die Heilung gefördert wird.
Anderseits kann eine aus guter Absicht vermittelte unrealistische, hoffnungsvolle Aussage jedoch auch verhindern, dass angesichts eines wahrscheinlich bevorstehenden Todes noch wichtige Gespräche stattfinden oder notwendige Regelungen getroffen werden, wenn es dazu scheinbar keine Notwendigkeit gibt. Die Chance für möglicherweise notwendige Versöhnung und Abschiede kann durch solch eine Notlüge unter Umständen unwiederbringlich verspielt werden.
Was folgt nun ganz praktisch aus all diesen Überlegungen zur Vielschichtigkeit des Begriffs Wahrheit?
Musst du, kannst du, willst du immer und überall maximal ehrlich sein? Selbst bei der Vermittlung von objektiven Wahrheiten stellt sich immer die Frage: Was ist dein Ziel, diese objektive Wahrheit wem, wann, zu welchem Zweck mitzuteilen?
Die praktische Konsequenz besteht meiner Meinung nach darin, dir bei allem, was du sagst, bewusst zu bleiben, wem du was zu welchem Zweck sagst, und dabei transparent zu machen, wenn es sich dabei zuallererst um deine ganz persönliche Meinung und Interpretation bezüglich vorliegender Tatsachen handelt.
Wenn du jemanden nicht leiden kannst, dann erspare deinem Gegenüber und dir, vermeintlich objektive Wahrheiten zu äußern, die nur dazu dienen, den anderen zu kritisieren: "Deine Frisur sieht unmöglich aus, die Bluse ist hässlich, dein Vortrag war viel zu lang und du hast zu leise gesprochen." Diese Aussagen, die deiner subjektiven Wahrheit entsprechen, haben dann nämlich keinen anderen Zweck, als deine Abneigung auszudrücken.
Wenn du dein Gegenüber magst, wirst du feststellen, dass deine Kommentare ganz anders ausfallen: "Ich finde, dass dir kürzere Haare besser stehen, mir gefallen einfarbige Blusen an dir besser, ich bin davon überzeugt, dass dein Vortrag beim Publikum besser ankommen wird, wenn du ihn um ein Drittel kürzt und dich bemühst, etwas lauter zu sprechen."
Du kannst deine persönliche Wahrheit abwertend, ja geradezu ätzend formulieren, oder eben auf konstruktive Art und Weise. Deine Authentizität wird dadurch in keiner Weise geschmälert.
Achte im Alltag darauf, worauf sich deine Aufmerksamkeit am häufigsten richtet. Auf Sachverhalte, die du als positiv empfindest und bewertest, oder auf Sachverhalte, die du negativ empfindest und bewertest?
Worin liegt für dich mehr „Wahrheit“, wenn du die unterschiedlichen Sichtweisen der nachfolgend beschriebenen beiden Gefangenen reflektierst?
Es saßen zwei Gefangene in der Zelle und schauten in die Ferne. Der eine sah das Gitterkreuz, der andere die Sterne …
"Okay", sagte Lisa, "ich sehe jetzt klarer, worauf ich achten kann bei der Äußerung meiner Wahrheiten und meiner oftmals absolutistischen Sicherheit bezüglich dessen, was ich als Wahrheit für mich empfinde. Ich bin mir auch bewusst, dass mich Wahrheit nicht von meiner Verantwortung entbindet zu entscheiden, was ich wem, wann, wie und weshalb sage.
Wie aber soll ich umgehen mit all dem, was mir andere als Wahrheit mitteilen? Soll ich jetzt niemandem mehr irgendwas glauben oder alle negativen Rückmeldungen als vorsätzlichen Versuch ansehen, mir zu zeigen, wie wenig mich mein Gegenüber mag? Und soll ich davon ausgehen, dass alle positiven Rückmeldungen nur heuchlerische Manipulationsversuche darstellen oder, aus falscher Rücksichtnahme auf mich, mir ein negativeres realistischeres Feedback ersparen sollen?"
Im Leben gibt es ganz selten ein Immer oder ein Nie. Es geht nicht darum, allen Aussagen anderer blind zu vertrauen, aber auch nicht darum, alles in Frage zu stellen oder abzulehnen. Wenn du aus der Angst vor Lug und Trug anfängst, jede Aussage auf Wahrheit und Täuschung zu analysieren, wird das deine sozialen Beziehungen und dich selbst sicherlich sehr belasten. Statt dir ständig Sorgen zu machen, ob jemand lügt oder versucht, dich zu schonen oder zu manipulieren, ist es in den meisten Fällen klüger, dich auf deine eigene Intuition zu verlassen.
Eine gesunde Portion Skepsis ist sinnvoll, doch zu viel Misstrauen kann dein soziales Leben unnötig kompliziert machen. Die Kunst liegt darin, nicht automatisiert alles zu hinterfragen, sondern bewusst, angemessen und ohne Zynismus Aussagen anderer auf dich wirken zu lassen.
Wahrheit ist von Natur aus vielschichtig – und manchmal ist es wichtiger, eine Aussage im Gesamtkontext zu betrachten, als sie sofort als wahr oder falsch einzustufen.
Und bedenke: Vieles, was Menschen sagen, spiegelt vor allem ihre subjektive Wahrnehmung wider. Es hilft, Aussagen nicht direkt und sofort als absolute Wahrheit zu akzeptieren, sondern sie angemessen zu hinterfragen: Wer sagt mir hier was, aus welchem Grund? Woher hat mein Gegenüber diese Informationen? Aus welchem Interesse heraus sagt mir mein Gegenüber das?
Und: Kritisches Denken bedeutet nicht, überall Täuschung zu wittern, sondern sich der Relativität von Aussagen anderer bewusst zu sein.
Genieße dein Leben im Relativen, in dem es nichts Absolutes, aber vielfältige Wahrheiten gibt.
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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