Wie oft sind wir in all dem gefangen, was wir von unseren Eltern gelernt und mit auf den Weg bekommen haben. In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" erfährst du, warum es nötig ist, sich davon zu befreien, und wie dir das gelingt.
Du sollst Vater und Mutter ehren … doch wenn sie dich schlagen, darfst du dich wehren.
Ich habe diesen Satz noch aus meiner Schulzeit in den Ohren. Er repräsentiert die ersten Versuche, sich selbstermächtigend und humorvoll aus der ungesunden kulturellen Vorgabe einer absolutistischen Forderung nach uneingeschränktem Gehorsam und totaler Liebe zu den Eltern zu befreien.
Es gibt wohl keinen Therapieverlauf, in dem die Rolle von Vater und Mutter außer Acht gelassen werden kann. Manchmal waren entweder Vater oder Mutter oder sogar beide nicht anwesend. Manchmal waren sie erdrückend übermäßig anwesend. Manchmal waren sie auf liebevolle und stützende Art und Weise für dich da, manchmal auf ungute, entwertende oder sogar bedrohende und im schlimmsten Falle missbrauchende Art und Weise. Als kleines Kind können wir jedoch nicht ohne Hilfe überleben. Wir brauchen liebende, sichere, körperlich und seelisch nährende Beziehungen. Bei vielen Menschen, die zu mir kommen, war das nicht der Fall.
Und genau da beginnt die Notwendigkeit zur Quadratur des Kreises: Den Einfluss frühkindlicher Erfahrungen zu leugnen, wäre unrealistisch. Alles, was im Hier und Jetzt bei dir unrund läuft, Vater und Mutter zuzuschreiben, aber ebenfalls!
Die Vergangenheit zu akzeptieren ist wichtig und auch, dass frühere Erfahrungen dich heute noch auf vielerlei Arten beeinflussen können. Unsinnig aber ist es, der Vergangenheit eine unabänderliche Bedeutung für das Heute zuzugestehen.
Deshalb lade ich meine Patientinnen und Patienten immer wieder dazu ein, sich vor Augen zu halten, dass heute die Vergangenheit von morgen ist und dass du dein Morgen ganz anders und befriedigender gestalten kannst, wenn du bereits heute an Veränderungen arbeitest.
Sei wach: Nimm die Vergangenheit nicht als Entschuldigung dafür, dass du passiv bleibst, anstatt deine Probleme lösungsorientiert anzugehen und ungünstiges Verhalten zu ändern. Entschließe dich stattdessen, gut für dich zu sorgen und alles zu tun, was dir hilft, deine Lebensfreude zu steigern.
Ob deine Eltern noch leben oder nicht, ob du sie regelmäßig triffst oder nicht – erlaube dir, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Erlaube dir ALLES, was dir wirklich gut tut. Erlaube dir, dich in jedem Moment nach bestem Wissen und Gewissen zu verhalten. In jedem Moment, der jetzt da ist und der noch kommen wird.
Es geht nicht darum, das Leben deiner Eltern fortzusetzen. Und es geht auch nicht darum, reaktionär genau das Gegenteil ihres Lebens zu leben. In beiden Fällen lebst du in Abhängigkeit von deinen Eltern. Sei erwachsen. Erlaube dir, dich selbst zu spüren. Jedes Bedürfnis, jede Regung, jede Neigung und Abneigung. Sei dies in Übereinstimmung mit den Werten deiner Eltern oder nicht. Denn alles darf sein.
Aus diesem Entschluss der Selbstbefreiung heraus wähle alle Qualitäten, die du in deinem Leben erfahren und zum Ausdruck bringen möchtest. Nimm alle ungesunden Urteile über dich selbst zurück – wie tief diese alten, oftmals unbewusst ausgesprochenen, deinen Selbstwert angreifenden Sätze von Vater und Mutter auch in dir nachklingen mögen.
Erlaube dir, weich und milde mit dir zu sein. Zeige dir jeden Tag mehr, wie sehr du dich selber schätzt. Achte und ehre DICH. Behandle dich mit höchstem Respekt und Güte. Sei freundlich zu dir. Vom Moment deiner Entscheidung an, dass du es dir selbst wert bist, es dir gut gehen zu lassen, befindest du dich deinen Eltern gegenüber in Freiheit.
Marie-Luise drückte es so aus:
"Als ich mich entschlossen hatte, das ständige Grübeln aufzugeben darüber, was meine Eltern mir früher nicht gegeben oder ungut gegeben hatten, änderte sich mein Gefühl mir selbst und ihnen gegenüber dramatisch. Ich hatte das tiefe Gefühl: Jetzt nehme ich mir alle Macht zu mir zurück, die ich bewusst oder unbewusst abgegeben hatte. Jetzt gehe ich – obwohl ich schon 28 bin – zum ersten Mal in meinem Leben ganz und erwachsen in die Eigenverantwortung.
Indem ich die Verantwortung für mein Wohlergehen – die ich an meine Eltern abgegeben hatte – zurück zu mir nehme, ist es mir nun möglich, ihnen viel freier zu begegnen. Auch wenn sie Fehler gemacht haben – ich gebe ihnen nicht mehr die alleinige Schuld für meine aktuellen Probleme. Denn ich habe verstanden, dass ich erwachsen bin und selbst verantwortlich für mein Leben. Und dass ich dazu auch fähig bin. Ich habe aufgehört, sie erziehen zu wollen, ihnen meine Ideen vermitteln zu wollen. Wenn ich sie besuche, mache ich mir jedes Mal vorher bewusst, was mein Ziel ist für diesen Besuch. Und vor allem, was nicht mein Ziel ist. Inzwischen kann ich gut loslassen, was nicht meinem Ziel entspricht.
Und wenn ich spüre, dass mich alte Programme in mir bremsen und hindern wollen, besteht meine stärkste Technik darin, mir zu sagen: Achtung, Achtung, eine Durchsage: Heute ist z. B. Sonntag der 14.05.2023. Ich bin 28 Jahre alt und ich erlaube mir, mein Leben auf meine eigene Art und Weise zu leben."
Wie Marie-Luise kannst du damit experimentieren, deine Einstellung zu dir und zu deinen Eltern immer wieder neu zu gestalten. Wenn du wertschätzender, milder und liebevoller mit dir selbst umgehst, wirst du auch frei sein, ebenso wertschätzender, milder und liebevoller mit deinen Eltern umzugehen. Oder aber eine gesunde Distanz einzunehmen.
Nimm deine Größe bereitwillig an, nimm deinen Platz als Meisterin und Meister deines Lebens entspannt ein und genieße dein Leben – in genau der Nähe und Distanz zu deinen Eltern und ihren Werten, die für dich stimmig ist.
Dir das Allerbeste beim Ehren von Mutter und Vater – auf deine Weise …
Dein
Gert Kowarowsky
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