In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky an zwei Beispielen, wie du mit deinem Wunsch oder deiner Furcht vor Aufmerksamkeit und dem Im-Mittelpunkt-Stehen umgehen kannst.
Was du für dich als ein Problem empfinden magst, ist für eine andere Person eine deutliche Erweiterung ihrer Verhaltensmöglichkeiten.
Das hört sich seltsam für dich an? Lass uns gemeinsam schauen, was damit gemeint ist.
Anna kam zu mir in die Sprechstunde mit der Bitte um Hilfe bei folgendem Problem:
„Wenn ich auf einer Party bin, tu ich alles, um auf jeden Fall im Mittelpunkt zu stehen. Ja, ich habe förmlich Angst davor, nicht beachtet zu werden. Was mein Outfit betrifft, lass ich es natürlich immer richtig krachen. Wenn ich irgendwohin gehe, trete ich immer auf – niemals nur ein. Ich spüre, dass das viel zu viel ist, dieses übermäßige Verlangen nach Aufmerksamkeit. Tief in mir drinnen fühle ich mich aber wie ausgehungert nach ständiger Bestätigung, Anerkennung und Lob. Wenn ich unter Leuten nicht im Mittelpunkt stehe oder, noch schlimmer, am Wochenende allein zuhause sitze und nirgendwohin eingeladen bin, fühle ich mich manchmal, als wäre ich nicht mehr existent oder nur noch ein kleiner Punkt, der frei im Weltall schwebt.“
Lukas dagegen klagt:
„Wo immer es geht, vermeide ich es, im Mittelpunkt zu stehen. Auftreten ist nicht mein Ding. Eintreten fällt mir schon schwer genug. Egal ob beruflich oder privat. Um Partys drücke ich mich mit Ausreden, obwohl ich schon gerne jemand kennenlernen würde. In mir sitzt diese tiefe Angst vor negativer Beurteilung. Schon als kleines Kind gehörte ich zu den Schüchternsten. Wenn mich heute jemand anspricht, fühle ich mich noch immer schnell verlegen, weiß nicht, was ich sagen soll, erröte leicht und fühle mich alles andere als attraktiv, geschweige denn als begehrenswert. Am wohlsten und sichersten fühle ich mich allein zuhause. Geh ich dann aber doch ab und zu einmal irgendwohin, fehlt mir natürlich jegliche Souveränität und auch die praktische Fähigkeit, mich locker-flockig zu unterhalten. Auch die „tolle“ Idee, vorher was zu trinken, um mich weniger unangenehm zu fühlen, bringt nicht wirklich was. Deshalb finde ich meistens irgendeinen Vorwand, um unsichtbar zu bleiben. Entweder ich fahre bereitwillig los, um noch etwas Fehlendes zu besorgen, helfe im Hintergrund mit bei den vielen notwendigen Handgriffen einer Feierlichkeit oder bring im Büro den PC der Gastgeberin wieder auf Vordermann – irgendwas finde ich immer …“
Ob sich also deine Lebensfreude erhöht durch Auftreten oder einfach nur Eintreten, im Mittelpunkt zu stehen oder nur dabei zu sein, lässt sich nicht generell beantworten. Deine persönliche Entwicklungsrichtung hat viel damit zu tun, wie du dich bisher am häufigsten in Gruppen verhalten hast.
Fühlst du dich unwohl dabei, nicht im Mittelpunkt zu stehen, lohnt es sich zu üben, genau dieses neue Verhalten in dein Interaktionsrepertoire aufzunehmen.
Anna habe ich, nachdem wir viele Stunden daran gearbeitet hatten, was in ihr im Hintergrund ablief, wenn sie so überaus intensiv um Bewunderung bemüht war, folgende Vorschläge gemacht:
Warte bitte nicht erst bis zur nächsten Party, um vor Ort zu versuchen, weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit der anderen zu stehen. Nutze die Zeit und überlege dir, ob dir das wirklich hilft, mehr Lebensfreude zu empfinden, und ob das wirklich wahr ist, was du an problematischen Glaubenssätzen und Grundannahmen in dir trägst:
Nutze darüber hinaus die Zeit bis zur nächsten Party auch noch, um jeden Tag etwas zu tun, was dir allein zu tun Spaß macht. Nutze auch kleine Alltagssituationen, um zu erforschen, was dir guttut – jenseits der Aufmerksamkeit, Zuwendung und Bewunderung anderer. Hast du jetzt eher Lust auf einen Pfefferminztee, einen Hagebuttentee, einen grünen Tee oder auf eine Tasse Kaffee? Magst du heute eher das Parfüm mit dem süßlicheren, dem herberen oder dem frischeren Duft an dir haben? Schreibst du lieber mit dem dickeren oder dem dünneren Stift? Welcher neue Film, der gerade läuft, spricht dich am meisten an? Geh hin und schaue ihn dir allein an. Experimentiere so oft wie möglich allein damit, zu hören, riechen, fühlen, sehen, schmecken, was dir guttut.
Wenn bislang die Aufmerksamkeit anderer zu bekommen, wenn bislang im Mittelpunkt stehen zu wollen – oder gar zwanghaft stehen zu müssen – das einzige Zentrum deiner Aufmerksamkeit war, ist es jetzt hilfreich für dich, wieder spüren zu lernen, was dir sonst noch guttut. Für dich geht es jetzt darum, deine Selbstentfremdung zu überwinden. Dein Gefühl, dir selbst eine Außerirdische geworden zu sein, zu überwinden. Kein Alien mehr zu sein bezüglich dessen, was du möchtest, was sich für dich gut anfühlt, gut riecht, gut schmeckt, schön anhört, schön aussieht. Alle Aktivitäten, die du allein unternimmst, können dir dabei hilfreich sein: Allein in eine Ausstellung zu gehen, allein ein Waldbad oder ein Wannenbad zu nehmen, allein... – was auch immer dir guttut zu tun.
Und dann experimentiere bei der nächsten Party damit, wie du dich entspannt auch im Hintergrund wohlfühlen kannst. Probiere es aus, welche neuen Erfahrungen du machst, wenn du nicht auftrittst, sondern einfach eintrittst. Wenn du anderen Aufmerksamkeit gibst, wenn du anderen zuhörst, wenn du mit anderen feierst, anstatt dich von ihnen feiern zu lassen.
Lukas wiederum erhielt von mir, um sein Verhaltensrepertoire zu erweitern, genau die entgegengesetzten Vorschläge. Ihm riet ich, Anna mit ihrem bisherigen Verhalten als Modell zu nehmen:
„Wenn du auf der nächsten Party bist, tu alles, um auf jeden Fall im Mittelpunkt zu stehen. Trete auf und nicht nur ein! Was dein Outfit betrifft, lass es richtig krachen. Lass dich von einem Kumpel beraten, den du bewunderst, weil er sich cool anzuziehen versteht. Vertrau auf den alten William James, der schon anno Tobak den Rat zur Verhaltensänderung gab: Act as if – fake it until you make it: Verhalte dich so, als ob du Lust hättest im Mittelpunkt zu stehen, und tu all das, was jemand tun würde, der gerne im Mittelpunkt steht. Und tu es so lange, bis es dir wirklich Spaß macht.“
Zur Vorbereitung arbeiteten wir ebenfalls noch an seinen „Lieblingsgedanken“, seiner Furcht, negativ bewertet zu werden:
Lukas erarbeitete sich folgenden realistischen Blick auf seine „Lieblingsgedanken“:
Zusätzlich setzte sich Lukas jeden Abend für 15 Minuten hin und schrieb neue realistischere Gedanken auf, um den gewohnheitsmäßig ablaufenden, selbstabwertenden Gedanken ihre Kraft zu nehmen. Dazu notierte er tagsüber, sobald er sie entdeckte, derartige Selbstwertfresser, oder sprach sie sich auf seinem Smartphone auf, um sie abends in Ruhe zu bearbeiten.
Wann immer du merkst, dass du dich in Gruppen stereotyp, immer nach dem gleichen Interaktionsmuster verhältst, erlaube dir zu spielen. Schaukle auf der Schaukel des Lebens. Erlaube dir, die ganze Bandbreite unterschiedlichster Verhaltensweisen im Zusammensein mit anderen zu leben.
Genieße es einzutreten
UND
genieße es aufzutreten!
Dein
Gert Kowarowsky
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