In diesem Beitrag aus der Reihe "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, dass es wir alle eine selektive Wahrnehmung haben. Wir sehen das, was wir sehen wollen – aber wir können unsere Blickrichtung auch ändern.
Ist dir schon mal aufgefallen, wie selektiv deine Wahrnehmung ist? Wenn du zum Beispiel vorhast, deine Frisur einer grundlegenden Veränderung zu unterziehen, wirst du dich wundern, wie sehr dir bei all den Menschen, die dir begegnen, mit einem Mal deren Frisuren ins Auge fallen. Wenn du gerade traurig bist, wirst du in deiner Wahrnehmung besonders sensibel sein für alle Informationen, die deine aktuelle Erfahrung bestätigen, dass nämlich die Welt in Wahrheit nichts anderes ist als ein Jammertal. Und umgekehrt erscheint dir die Welt viel lebenswerter, wenn es dir gerade gut geht.
Die Welt ist offensichtlich nichts Konstantes.
Jeder Mensch erlebt sie in jedem Moment auf seine persönliche Art und Weise. Ja, die Welt ist für uns so, wie wir uns gerade fühlen.
Aus den vielen Millionen von Wahrnehmungsimpulsen, die in jeder Sekunde dein Gehirn erreichen – exakt sind es 11 Millionen – nimmst du bewusst immer nur 40 Einzelimpulse pro Sekunde wahr. Mehr wäre zu viel für das Gehirn. Dein aktuelles Bewusstsein bestimmt, wessen du dir gerade bewusst wirst. Deine Sicht auf die Dinge wird im Hintergrund immer von vielen Faktoren beeinflusst: deinem Körperzustand, deinem Wissen, deinen bisherigen Lebenserfahrungen, deinen Zielen, deinen aktuellen Bedürfnissen, deinen gerade vorherrschenden Emotionen. Und immer dann, wenn du dich ganz besonders intensiv mit einem bestimmten Thema beschäftigst oder eine starke Motivation hast, etwas Bestimmtes zu erreichen, nimmst du Informationen selektiv besonders intensiv wahr.
Jonas zum Beispiel suchte gerade nach einer Wohnung. In den Sitzungen berichtete er immer wieder über die abenteuerlichsten Umstände, unter denen er diesbezügliche Informationen aus dem Meer der Alltagswahrnehmungen herausfilterte. Im Austausch mit Kolleg:innen, Freund:innen und Bekannten war sein Wahrnehmungsradar sofort auf Empfang, wenn in einem Gespräch irgendetwas auch nur entfernt damit zu tun hatte, dass irgendwer irgendjemanden erwähnte, der irgendjemanden kennt, der gerade einen Nachmieter sucht. Ja, selbst wenn er in einem Lokal saß und sich mit Freunden unterhielt, bekam er noch mit, was zwei Tische weiter geredet wurde, wenn er eines der Codeworte gehört hatte, die etwas mit Wohnung oder Vermieten zu tun hatten.
Sein Gehirn spielte ihm dabei gerne auch mal Streiche. Da für ihn ja das Thema "Wohnung finden" derzeit am wichtigsten war, erwischte er sich öfter auch dabei, dass er ein anderes Thema fälschlich als sein aktuelles Thema wahrnahm. So berichtete Jonas, dass er schon fast geglaubt hatte, eine Wohnung auf dem Präsentierteller angeboten bekommen zu haben, als er am Nebentisch hörte: "Ja, und jetzt habe ich eben wieder abgesagt. Blöd ist nur, dass der Vermieter von mir einen Nachmieter verlangt, ansonsten bleibt es bei dem Vertrag …" Als Jonas sein Interesse bekundete, eben dieser Nachmieter zu werden, stellte sich jedoch heraus, dass es sich dabei um eine Garage handelte.
Ein typischer Fall von kognitiver Verzerrung! Wenn wir etwas ganz besonders wollen oder befürchten, filtert unser Gehirn Informationen so, dass sie zu unseren aktuellen Bedürfnissen oder Überzeugungen passen. Dadurch können wir bestimmte Aspekte übersehen oder überbewerten.
Christiane zum Beispiel war verliebt in ihren Arbeitskollegen. Als er ihr einen Keks anbot, sah sie darin sofort eine Liebeserklärung. Ihr Gehirn machte ihr diese Bewertung schmackhaft mit der Argumentation: "Er ist halt schüchtern und sagt es durch die Blume, ähm, durch den Keks …" Leider stellte sich dies ebenfalls als kognitive Verzerrung heraus, als vom Wunsch getragene Fehlbewertung. Eben dieser Kollege lud nämlich alle seine Kollegen und Kolleginnen in der folgenden Woche zu seinem Polterabend ein …
Jonas zeigte sich im Verlauf seiner weiteren Therapie vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen sehr neugierig, das Thema der vorurteilsfreien Wahrnehmung und die Grenzen des Wissen-Könnens vertieft zu erkunden. Er stellte die Frage: "Wenn unsere Wahrnehmungen also geprägt sind von unserem aktuellen Körperzustand, unserem Wissen, unseren früheren Erfahrungen, Bedürfnissen, Wünschen und Emotionen, gibt es dann überhaupt so etwas wie eine unverfälschte Sicht auf die Dinge?"
Immanuel Kant argumentierte in seiner Kritik der reinen Vernunft, dass eine völlig unverfälschte Erkenntnis – also eine Erkenntnis, die unabhängig von subjektiven Wahrnehmungen und Denkstrukturen existiert – nicht möglich sei.
Obwohl Platon, im Gegensatz zu Kant, davon überzeugt war, dass es eine Welt der Ideen gibt, die unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert und durch reine Vernunft erkannt werden kann, hielt er es ebenfalls für sehr schwierig, das "Wahre" wahrnehmen zu können. Er argumentierte, dass unsere sinnliche Wahrnehmung uns nur eine verzerrte und unvollständige Sicht auf die Realität bieten könne. In seinem berühmten Höhlengleichnis beschreibt er, dass Menschen, die dauerhaft in einer Höhle sitzend nur Schatten an der Wand sehen, diese für die Wirklichkeit halten könnten. Die wahre Natur der Dinge zu erkennen, würde voraussetzen, dass sie die Höhle verlassen und ins Sonnenlicht treten müssten. Dazu wären jedoch die wenigsten Menschen bereit, da die Gewohnheit, an ihren bisherigen Überzeugungen festzuhalten, sie daran hindern würde.
Jonas brachte es pragmatisch auf den Punkt: "Wir sehen also das, was unserem inneren Mindset entspricht, was wir glauben und sehen wollen, wonach wir suchen, was unseren aktuellen Bedürfnissen entspricht. Wir brauchen also eine kritische Distanz zu unseren Wahrnehmungen und inneren Überzeugungen. Denn allzu oft übersehen wir zusätzliche Aspekte, die das, was wir wahrnehmen, relativieren oder es in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen."
Einerseits erkennen wir, wie die Selektivität unserer Wahrnehmung unsere Sicht auf das Leben bestimmt. Gleichwohl haben wir dennoch die Freiheit, unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was die Lebensfreude erhöht, anstatt auf das, was uns erzürnt, deprimiert oder ängstigt.
Eine der ersten Aufgaben in der Paartherapie mit Jan und Anna war deshalb für die beiden, den anderen so oft wie möglich dabei zu "erwischen", wie er oder sie etwas sagte oder tat, was sie wirklich gut fanden. Es ging also nicht darum, problematisches Verhalten zu relativieren, sondern darum, danach Ausschau zu halten, was an positivem Verhalten am Gegenüber wahrgenommen werden konnte.
Das alte Muster negativer selektiver wechselseitiger Wahrnehmung steckte tief. In den ersten Tagen fiel es beiden nach wie vor viel leichter, die Aufmerksamkeit immer wieder auf die problematischen Verhaltensanteile des Gegenübers zu richten. Nachdem sie sich jedoch in den Therapiegesprächen darüber bewusst geworden waren, wie viel sie miteinander verband und dass letztendlich beide das Ziel hatten, ihre Partnerschaft aufrechtzuerhalten, änderte sich ihre gegenseitige Wahrnehmung. Jetzt fanden sie viel leichter mehrmals täglich immer wieder etwas am anderen, was ihnen gefiel.
Sie verwirklichten damit, was schon Sokrates Menschen mit auf den Weg gab, die sich in der dunklen Seite des Blicks auf die Welt verfahren hatten. Wenn ihm seine Zeitgenossen all das Negative berichteten, das sie wieder einmal gesehen und erlebt hatten, fragte er nämlich häufig:
"Ist das immer so negativ?"
Und:
"Gibt es Gegenbeispiele?"
Darum schalte deinen Radar ein für die Ausnahmen zu all den gewohnheitsmäßigen problematischen Wahrnehmungen und lass dich überraschen, was du alles in der Vielfalt des Lebens zu entdecken vermagst.
Denn jeder Tag zählt – auch heute!
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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