In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie wir mehr Lebensfreude und einen besseren Umgang mit unseren starken Gefühlen erlangen können, wenn wir dem Tod mehr Aufmerksamkeit schenken.
In vielen Therapien bringe ich das Thema Tod zur Sprache, einfach weil es nach wie vor zu den Top Ten der Tabuthemen gehört. Mitunter zitiere ich gerne meine Oma, die von einem Sonntagsgottesdienst nach Hause kam und lachend erzählte: „Wisst ihr, was der Pfarrer heute gepredigt hat? Er hat gesagt: Alle Menschen müssen sterben – vielleicht auch ich …“
Das zeigt, wie tief die Verweigerung sitzt, sich mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen. Und das, obwohl jede und jeder weiß: Der Tod ist gewiss, die Stunde nicht! (Manche Schüler:innen lernten es auf lateinisch zu sagen: Mors certa, hora incerta.) Ja, der Tod ist uns allen gewiss. Die Stunde unseres Todes ist jedoch unbekannt und daher für alle sowohl unbestimmt als auch nicht vorhersagbar.
Genau deshalb ist das Thema Tod zugleich das lebensförderlichste Thema überhaupt.
Angesichts der Tatsache, dass das Morgen für niemanden von uns gewiss ist, stellt sich noch radikaler die Frage, wie wir unser Leben leben wollen. Fragen wie: „Wenn ich nur noch ein Jahr zu leben hätte, nur noch einen Monat, nur noch eine Woche, nur noch den heutigen Tag, nur noch eine Stunde … Was würde ich dann noch tun?“ sind wertvolle Helfer. Sie können dir Klarheit geben, was du wirklich, wirklich willst. Was dir wirklich, wirklich wichtig ist. Was du gelebt haben möchtest, um in Frieden sterben zu können, ohne das Gefühl der Verbitterung zu erleben, das Wichtigste nicht gelebt zu haben.
Bevor du dir am Ende deiner Tage sagen musst: „Wenn ich noch einmal zu leben hätte, dann würde ich …“, schaue jetzt, was von deinem aktuellen Leben du genau so weiterleben möchtest, was du weniger oder gar nicht mehr tun möchtest, was du stattdessen mehr tun oder neu beginnen möchtest. Verschiebe angesichts deines sicheren Todes nichts mehr auf den Sankt Nimmerleinstag.
Neben dieser Funktion, dein Lebensfreude-Zeitmanagement zu optimieren und dir bewusst zu werden, was dir wichtig und weniger wichtig oder irrelevant ist, hilft dir das Thema Tod auch dabei, dein Gefühlsmanagement zu verbessern.
Deine Bewusstheit über die Tatsache, dass sowohl du sterben wirst als auch jeder dir wichtige Mensch und jedes dir wichtige Tier, kann deine Klarheit auch bei emotionalen Turbulenzen ganz wesentlich erhöhen. Carlos Castaneda berichtete hierzu schon 1976 über eine erstaunliche Lebenshilfe-Technik der indigenen Volksgruppe der Yaqui:
„So kennt es jedes Kind der Gemeinschaft von klein an: Wann immer du in eine schwierige Lage kommst, in der deine Gefühle Achterbahn fahren, erinnere dich daran, dass der Tod als schwarzer Vogel immer auf deiner linken Schulter sitzt. Frage ihn um Rat, was jetzt zu tun oder zu lassen ist. Und – so lernt es jedes Kind – schau auch auf die linke Schulter deines Gegenübers, wo ebenfalls der schwarze Vogel sitzt. Ganz besonders wichtig ist das in Momenten, in denen die andere Person unangenehme Gefühle in dir auslöst wie Ärger, Wut, Scham oder Eifersucht.“
Zeichne ein einfaches Strichmännchen mit einem Vogel auf der Schulter. Schau es an und überprüfe für dich, inwieweit dir das, was Castaneda zu berichten wusste, weiterhelfen kann.
Aus der Erkenntnis der modernen Emotionsforschung kannst du diese Technik weiter optimieren, indem du versuchst, dir der Intensität deines erlebten Gefühls bewusst zu werden und es auf einer Skala von 0 bis 10 einstufst.
Beginne deine innere Analyse der Situation also immer mit: „Jetzt fühle ich X, Y oder Z (z.B. Angst, Wut, Scham ...) in der Stärke des Windes (Skala 1 bis 10)“, also z. B.: „Jetzt fühle ich Wut der Windstärke 9!“ Benenne dein Gefühl, bestimme die Windstärke dieses Gefühls. Und im Bewusstsein, dass jede und jeder in jedem Moment sterben kann, überlege dir, wie du jetzt auf dein Gegenüber oder eine dir unangenehme und hochemotionale Situation angemessen reagieren kannst.
Vereinbare mit dir selbst wöchentliche Treffen, bei denen du dir die Frage stellst: „Wie oft habe ich diese Woche auf meine eigene linke Schulter geschaut? Wie oft habe ich diese Woche auf der linken Schulter meiner Mitmenschen den schwarzen Vogel gesehen, bei welchen Gefühlen, in welcher Windstärke? Was habe ich daraufhin anders gedacht, anders gefühlt, anders gemacht?“
Erweitere deine Landkarte. Erkläre das Thema Tod zur tabufreien Zone des darüber Nachdenkens, Fragens, Sprechens.
Das Wort Tabu geht zurück auf das polynesische Wort Tapu. Tapu ist das, was nicht betreten werden darf, das, was unantastbar ist, das, wonach nicht gefragt, ja, worüber nicht einmal gesprochen werden darf.
Stelle dir selbst Fragen wie: Habe ich eigentlich Angst vor dem Tod? Möchte ich, dass meine Liebsten an meiner Seite sind, wenn ich sterbe? Wie und wo will ich beerdigt werden? Lieber eine Party oder lieber ein stilles Ereignis? Wie soll der Text lauten, der auf meiner Trauerkarte oder meiner Todesanzeige steht?
Und wage es, das verbotene Gebiet, das Tapu, zu betreten, auch gegenüber den Menschen, die dir wichtig sind. Ein Sonntagsspaziergang, eine gemütliche Kaffeerunde, ein mit deinen Liebsten verbrachter Sommerabend auf der Terrasse sind wunderbare Gelegenheiten, auch ihnen diese Fragen zu stellen.
Lass uns über dich und mich reden. Über den Tod. Über intensives Leben und Erleben. Über das, was der Blick auf unsere Endlichkeit freisetzt an Lebensfreude, wenn das Thema Tod ab heute kein Tabu, keine verbotene Zone mehr ist. Deine Erlaubnis an dich selbst, das Thema Tod in dein Leben eintreten zu lassen, beeinflusst deine Lebensfreude vorhersagbar intensiv und positiv.
Gut gefällt mir in diesem Zusammenhang auch die Aussage des alten Geheimrats Goethe, der Folgendes geantwortet haben soll, als ihn die Damen des Hofes danach fragten, was er denn über das Leben nach dem Tode zu sagen hätte:
„Meine Damen, über das Leben nach dem Tode vermag ich Ihnen nichts Gewisses zu sagen. Eines aber weiß ich sehr gewiss: Es gibt ein Leben vor dem Tode! Und das so intensiv wie möglich zu leben, möchte ich Sie aufs Herzlichste einladen.“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Lebe intensiv und in Fülle!
Dein
Gert Kowarowsky
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