Chronos oder Kairos? Wie finde ich meine Zeit? – #86

Besonders für Aufgaben, die uns schwerfallen, brauchen wir nicht nur einfach Zeit – es muss auch die richtige Zeit sein. In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" erfährst du, welche Formen der Zeit es gibt und warum Stille und Achtsamkeit dabei helfen können, sie zu finden.

Chronos oder Kairos? Wie finde ich meine Zeit? – #86
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

"Ach, wissen Sie, ich bin einfach ein Morgenmuffel. Vor 10 Uhr ist nicht meine Zeit. Dafür bin ich eine echte Nachteule, vor 1 Uhr nachts komme ich nie ins Bett." So versuchte mir Daniel zu erklären, weshalb Problemlösung am Morgen nicht sein Ding ist. Luisa hingegen wollte ihre Therapiestunden möglichst früh am Tag vereinbaren, da sie sich am Morgen besonders wach, klar und zentriert fühlt und in diesen Stunden erfahrungsgemäß am ehesten konstruktive Lösungen finden kann.

Wann ist für dich wofür die beste Zeit?

Die messbare und die richtige Zeit

Schon immer haben sich Menschen darüber Gedanken gemacht, wann, wo und mit wem für sie der beste Zeitpunkt ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Für Zeit gibt es sogar verschiedene Worte. Sie können dabei helfen, sich die unterschiedlichen Aspekte der Zeit bewusst zu machen:

  • Chronos: Das ist die messbare Zeit, die in gleichbleibenden Einheiten abläuft (die Uhr, der Chronometer).
  • Kairos: Das ist der richtige, der günstigste Augenblick, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. 

In der griechischen Mythologie wird beschrieben, dass Kairos, der jüngste Sohn von Zeus, wallende Locken, aber einen kahlgeschorenen Hinterkopf gehabt haben soll. Kairos sei ständig auf flinken beflügelten Füßen unterwegs gewesen. Wer ihn am Schopfe zu packen vermochte, hatte Glück, hatte den richtigen Zeitpunkt erwischt, um seine Unternehmungen erfolgreich auszuführen. Wer zu spät kam, dessen Hand glitt am kahlen Hinterkopf herab und er hatte die günstigste Gelegenheit zu handeln, sein Glück verpasst. 

Gemeint ist mit dieser mythologischen Gestalt des Kairos wohl die alltägliche Erfahrung, dass nicht zu jedem Zeitpunkt für alles die richtige Zeit ist. Nicht alles kann immer überall optimal besprochen oder behandelt werden. Manche Dinge brauchen den richtigen Rahmen, den richtigen Ort und eben die richtige Zeit, um in Angriff genommen werden zu können. Die angemessene Zeit für dein Vorhaben und die bestmögliche Zeit dazu für dich selbst. Die Zeit, in der alles in dir und alles außerhalb von dir zusammenpasst, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.

Auf der Suche nach der besten Zeit

Deine beste Zeit, etwas in Angriff zu nehmen, kann sich unterscheiden von der besten Zeit deiner Partnerin oder deines Partners für das gleiche Tun. Für euch beide gilt auch, dass es zu bestimmten Zeiten für jeden von euch schwieriger oder leichter sein wird, eine gegebene Aufgabe erfolgreich und mit dem geringsten Aufwand durchzuführen. 

Wann deine beste Zeit ist, um das dir Wichtige zu tun, lässt sich also ganz offensichtlich nicht einfach an der Uhr ablesen. Deshalb hatten Menschen schon immer eine tief verankerte Sehnsucht, den günstigsten Moment zu erwischen oder ihn sich vorhersagen und vorherberechnen zu lassen. Das Orakel von Delphi wurde befragt, „Vogelschau“ wurde betrieben, Karten wurden und werden gelegt, das I-Ging und die Berechnungsmethoden der Astrologie waren und sind dazu weiterhin im Einsatz.

Im Ayurveda, das zu den ältesten heilkundlichen Systemen zählt, werden die Stunden des Tages, die Jahreszeiten und größere, mehrere Lebensjahre umfassende Abschnitte des Lebens in unterschiedliche Phasen von Vata, Pitta und Kapha eingeteilt. Also in Phasen höherer energetischer Intensität und in Phasen des Übergangs und der Konsolidierung.

Auch in der modernen Medizin und Psychologie wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts versucht, auf wissenschaftlicher Basis besonders günstige Zeiten für jeden Einzelnen zu erfassen. Der Begriff des Biorhythmus, der auf den Wiener Psychologen Swoboda und den Berliner Arzt Fließ zurückgeht, hält strengen wissenschaftlichen Kriterien zwar nicht stand, ist aber immer noch weit verbreitet. Anhänger dieser Sichtweise sind überzeugt, dass es drei Rhythmen mit unterschiedlicher Periodendauer gibt. Einen körperlichen Rhythmus, der sich alle 23 Tage wiederholt, einen emotionalen Rhythmus, der alle 28 Tage wiederkehrt, und einen geistigen Rhythmus, der sich alle 33 Tage wiederholt. Jeweils nach der Hälfte dieser Periodenzeit durchwandert das Hoch die Null-Linie und verwandelt sich in ein Tief, das zu Beginn der nächsten Zyklusphase wieder in ein neues Hoch übergeht. Also von Geburt an sich ständig wiederholende Gute Zeiten – Schlechte Zeiten.

Was lehrt uns die Erforschung der biologischen Rhythmen?

Im Gegensatz zu der diskussionswürdigen Theorie des Biorhythmus wurde 2017 der Nobelpreis für die exakte Erforschung biologischer Rhythmen (nicht des Biorhythmus!) vergeben an die Wissenschaftler Hall, Rosbash und Young. Sie konnten auf höchstem wissenschaftlichen Niveau den molekularen Nachweis dafür liefern, dass tatsächlich jede Zelle einem eigenen täglichen Rhythmus unterliegt. Auf alltagspraktischer Ebene bedeutet das, dass dein Herzschlag, deine Atmung, deine Lust auf Lust und, falls du eine Frau bist, dein Menstruationszyklus von den zellulären biologischen Rhythmen beeinflusst werden. Gesichert ist auch die Erkenntnis der Chronobiologie, dass die Bioverfügbarkeit von Medikamenten, also die tatsächlich im Blut ankommende Konzentration der objektiv verabreichten chemischen Substanz davon abhängt, zu welchem Zeitpunkt des Tages ein Medikament eingenommen wurde. Besonders bedeutsam ist das z. B. bei einer Chemotherapie, bei der zu unterschiedlichen Zeiten mit einer geringeren Konzentration an Zytostatika die gleiche Wirkung erzielt werden kann.

Daraus folgt aber auch, dass die Belastung für deinen Körper umso größer ist, je mehr deine Lebensweise deiner eigenen biologischen Uhr zuwiderläuft. Und deine Anstrengungen werden umso größer sein müssen, um die gleiche Wirkung zu erzielen, wenn du zu für dich ungünstigen Zeiten handelst. Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, mit den richtigen Menschen das Richtige zu tun – darin besteht die Herausforderung. Um die gröbsten Fehler zu vermeiden, können dir sicherlich deine ärztlichen oder naturheilkundlichen Beraterinnen und Berater zur Seite stehen.

Offensichtlich gibt es für verschiedene Aufgaben und Zielsetzungen Zeiten, die besonders günstig oder auch besonders ungünstig sein können. Ob du der "frühe Vogel" bist oder die "Nachteule", ist eine Sache. Was gerade dein Ziel ist, die andere. Wenn du das Glück des Sonnenaufgangs vom Berggipfel aus genießen möchtest, stellt sich die Frage, ob du als „Nachteule“ nach einer durchgemachten Nacht noch über ein Nervensystem verfügst, das aufnahmefähig und positiv schwingungsfähig genug ist, um diese wundervolle Stimmung zu genießen. Genau so stellt sich die Frage, ob du als „früher Vogel“ die Mitternachtsparty wirklich als Bereicherung deiner Lebensfreude empfinden kannst, wenn du schon morgens um 5:30 Uhr aufgestanden bist.

Ja, idealerweise sollte jede Frucht die Gelegenheit haben, bis zu ihrem optimalen Reifegrad heranzuwachsen, um dann zu einem Zeitpunkt gepflückt und gegessen zu werden, der dem Essenden wirklich Glück bringt. So sollten auch deine Wünsche zur angemessenen Zeit den Bereich des Denkens verlassen und sich in Handlungen manifestieren. Ungeduld oder übereiltes Vorpreschen sind dabei oft mit Nachteilen verbunden, bis hin zum Nichterreichen des Ziels. Zu langes Zögern und Zaudern aber genauso.

Wie findest du für dich deine besten Zeiten?

Und nun? Wie findest du für dich deine besten Zeiten? Wer mich fragt, bekommt von mir folgenden Rat:

Um von morgens bis abends, Tag und Nacht, heute, morgen und in Zukunft auf die beste Art und Weise zu der optimalen Zeit das für dich und die Welt Bestmögliche zu tun, nimm dir regelmäßig Zeit zum Selbstrückbezug. Nimm dir regelmäßig Zeit für Momente der Stille, um in größtmöglicher Präsenz durch dein Leben zu gehen. Achtsamkeit für den Augenblick, Präsenz, entspannte Anwesenheit, vitale, energiereiche Geistesgegenwart, das sind ganz sicher die besten Voraussetzungen, deine eigenen innerlich klaren Ziele immer wieder im besten Moment realisieren zu können. 

Wenn du zum Beispiel einen wichtigen Anruf zu machen hast, von dem viel für dich abhängt, versuche Kairos am Schopf zu packen. Horche in dich hinein, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, zum Telefon zu greifen. Spüre, wann du in der genau richtigen Stimmung bist, wann du Klarheit hast, was du sagen willst, und dann tu es. Achtsamkeit erweist sich somit auch beim Thema „Wann ist meine beste Zeit wofür“ als einer der wichtigsten Faktoren. 

Den schönsten Satz zum Thema Zeit habe ich immer noch von Thich Nhat Hanh im Ohr:

Use your time to reach the timeless.

Nutze deine Zeit, das Zeitlose zu erreichen.

Genieße jeden Moment deines Lebens.

Jeder Moment zählt – auch HEUTE.

Dir das Allerbeste

Dein Gert Kowarowsky

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