Nicht mit mir selbst geschimpft – ist das schon genug gelobt? – #99

In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie wir lernen können, Lob anzunehmen und uns selbst zu loben.

Nicht mit mir selbst geschimpft – ist das schon genug gelobt? – #99
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Jonas, einer meiner oberfränkischen Patienten, meinte: „In Schwaben heißt es ja: Ned g'schimpft, isch g'nug g'lobt.“ Aber er legte noch eine Schippe drauf: „Ich dagegen bin schon froh, wenn ich auf Selbstverletzungen verzichten kann, wenn ich mal wieder meinem eigenen, überhöhten Standard nicht entsprochen habe. Schließlich bin ich groß geworden mit den Sätzen meines Fußballtrainers: Nicht geprügelt, ist genug gelobt.“

So extrem sehen es zwar die wenigsten, aber oft gehörte Sätze wie „Eigenlob stinkt“ finden die meisten Menschen, die zu mir kommen, als völlig angemessen. Gerade gestern meinte Saskia sogar: „Ich traue mich nicht einmal richtig aufrecht zu gehen, wenn ich einen Erfolg verbucht habe, damit mir ja niemand vorwerfen kann: Jetzt ist sie wieder einen Kopf größer geworden, weil ihr das gelungen ist, und sie bildet sich sicher ein, die Größte zu sein.“

Die Kissen-Übung: Lob abzulehnen ist für beide Seiten enttäuschend

Vielen Menschen fällt es schwer, Lob anzunehmen und andere oder gar sich selbst zu loben. Wenn auch du dich damit schwertust, können dir vielleicht ein paar Hinweise helfen, wie mit dem Thema Lob und Selbstlob innerhalb der Verhaltenstherapie umgegangen wird. In vielen Therapien übe ich zur Einstimmung zuerst einmal, wie man ein Lob annimmt. Das sieht dann etwa so aus:

Ich gebe meinem Gegenüber ein Kissen in die Hand und erkläre: „Das ist ein Lob. Ich möchte Sie bitten, mir dieses Lob mit einer kleinen lobenden Bemerkung zu geben, etwa: Sie haben Ihr Therapiezimmer sehr schön eingerichtet – das gefällt mir.“ Wenn mein Gegenüber mir nun das Lob-Kissen mit diesen Worten gibt, nehme ich es vermeintlich an, werfe es aber sofort auf den Boden, trample darauf herum und sage Dinge wie: „Ach Quatsch, das ist ein ganz normales Therapiezimmer, nichts Besonderes, da sollten Sie mal die Therapiezimmer meiner Kolleg:innen in New York sehen …“

Bei meiner nachfolgenden Frage, wie sich mein Herumtrampeln auf ihrem Lob angefühlt hat, erkennen die meisten, dass sie sich fast ausgeschimpft fühlen für ihr Lob, so als ob ihr Lob eine völlig falsche, ja dumme Bemerkung sei über etwas, das in Wahrheit überhaupt kein Lob verdiene.

Daraufhin gebe ich das Kissen ein zweites Mal mit der erneuten Bitte, das gleiche Lob noch einmal genau wie vorher auszusprechen und mir das Kissen dabei noch einmal zu geben. Dieses Mal nehme ich das Kissen liebevoll in Empfang, halte es in meinen Händen, drücke es an mein Herz und sage beispielsweise: „Oh, das freut mich, dass Sie mein Therapiezimmer schön finden. Ja, ich achte sehr auf die Kleinigkeiten, die dabei helfen können, sich hier wohlzufühlen. Vielen Dank für das Kompliment. Ich freue mich wirklich sehr darüber, dass Sie es hier auch schön finden.“

Meine Frage danach, wie es sich jetzt angefühlt hat, als ich das Lob mit Freude und Wertschätzung angenommen habe, hilft den meisten zu einer wichtigen Erkenntnis: Wenn ein Lob angenommen wird, ist das auch für die Person, die lobt, eine Freude. Wenn dagegen ein Lob abgewehrt und abgewertet wird, aus Angst, arrogant oder eingebildet zu wirken, ist das eine enttäuschende Erfahrung.

Danach üben wir zwei, drei Mal das konstruktive, aktive Annehmen von Lob mit vertauschten Rollen. Dabei lobe ich mein Gegenüber für die Mitarbeit, für das pünktliche Erscheinen zu den Sitzungen oder was immer in der aktuellen Begegnung angemessen, aufrichtig und passend erscheinen mag.

Feiere dich selbst – genieße es, dich zu loben

Die fortgeschrittene Stufe im Umgang mit Lob besteht darin, nicht nur Lob entspannt und aktiv anzunehmen und andere im Alltag öfter zu loben, sondern mehr und mehr auch sich selbst ein Lob zu schenken. Dich selbst zu loben hilft dir dabei, dich an der eigenen Arbeit und dem, was du getan oder erreicht hast, viel mehr zu freuen. Es hilft dir dabei, deine Ergebnisse zu würdigen und das, was du getan hast, einfach mal richtig gut zu finden.

Du hast dich 24 Stunden und sieben Tage die Woche dabei. Niemand kann angemessener beurteilen und loben, was dir an Fortschritt gelungen ist. Nimmst du jedoch zum Maßstab, was andere können und erreicht haben, wirst du immer jemanden finden, der höher, schneller, weiter – kurzum, alles besser kann als du. Anstatt dich mit anderen zu vergleichen, lobe dich stattdessen immer für deinen Fortschritt in Relation zu dem, was du vom Ausgangspunkt her bereits erreicht hast. Lerne dich zu loben, anstatt dich zu kritisieren.

Ich beobachte immer wieder bei allen, die dies umsetzen, dass sie die gleichen Erfahrungen machen wie Simone, die es für sich so zusammengefasst hat: „Seitdem ich entspannter mit mir bin, Lob leichter annehmen und anderen Menschen mehr echte Anerkennung zukommen lassen kann, fällt es mir leichter, auch mir selbst Beifall zu spenden. Ich sage viel öfter und mit echter Begeisterung zu mir: WOW! Das habe ich echt gut gemacht! und mache auch schon einmal einen Luftsprung, wenn etwas ganz besonders gut geklappt hat.“

Neben der Sorge, von anderen für Selbstlob negativ bewertet zu werden, liegt der Hauptgrund für mangelndes Selbstlob meist in deinem eigenen zu strengen, oftmals perfektionistischen Maßstab. Ersetze dein innerliches Schimpfen mit dir über fehlenden eigenen Perfektionismus durch einen wertschätzenden Blick auf das, was dir gelingt. Wenn etwas noch nicht so gut geht, wie du es gerne hättest, lass das Schimpfen bleiben. Analysiere stattdessen, was du beim nächsten Mal besser machen kannst. Und wenn es gelingt, dann gehe über den schwäbischen Modus hinaus: Hör nicht nur auf mit dir zu schimpfen, sondern gib dir selbst das verdiente Lob!

Feiere mit einem Lebensfreude fördernden, aufrichtigen Lob, was immer es zu feiern gibt:

Feiere die anderen - genieße es, sie zu loben.
Feiere dich selbst - genieße es, dich zu loben.
Feiere das Leben - genieße es, jedes positive Ereignis zu loben.

… Und lass dir von mir versichern: In der gesamten Weltliteratur ist kein einziger Fall dokumentiert, dass irgendjemand durch zu viel aufrichtiges Lob gestorben wäre – auch nicht durch Selbstlob.


Dein

Gert Kowarowsky

Dieser Beitrag ist Teil der zweiwöchigen Kolumne von Psychotherapeut Gert Kowarowsky

Alle Beiträge der Kolumne "Erfahrungen aus der Praxis" und mehr über den Autor und Psychotherapeuten Gert Kowarowsky findest du hier.

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 Die Kissen-Übung: Lob abzulehnen ist für beide Seiten enttäuschend
 Feiere dich selbst – genieße es, dich zu loben
 Dieser Beitrag ist Teil der zweiwöchigen Kolumne von Psychotherapeut Gert Kowarowsky
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