Von der Freiheit im Besitzen, Tun und Lassen – #43

In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" geht es um Begriffe wie Tun und Lassen, Besitz und Freiheit und erklärt in anschaulichen Beispielen, wie wir durch eine neue Sicht auf unser Handeln mehr Lebensfreude erreichen.

Von der Freiheit im Besitzen, Tun und Lassen – #43
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Als ich den Titel des PAL Newsletters zum Thema innere Freiheit zum ersten Mal hörte, blubberte es ganz freudig in mir: Oh, wie schön! Endlich mal wieder meine beste Freundin Christina und den von mir so geschätzten Laotse zitieren können.

Der Unterschied zwischen Besitz und Besitzenwollen

Christina verblüfft mich immer wieder damit, wie sie mit Besitz und Besitzenwollen umgeht. Sie kann mir voller Begeisterung davon erzählen, was sie heute bei einem ihrer seltenen Stadtbummel alles in den Schaufenstern und Läden gesehen hat. Sie berichtet dann detailliert von wunderschönen Kleidern, Möbeln, Teppichen, Schmuck oder Geschirr. Und richtig strahlend wird ihr Gesicht immer dann, wenn sie am Ende ihrer Schilderungen erklärt: "Und weißt du, was das Schönste ist? Das Schönste ist für mich dieses tiefe, zufriedene Gefühl, wenn ich, ohne etwas gekauft zu haben, wieder nachhause gehe, mich auf mein zwanzig Jahre altes Sofa setze und mich darüber freue, was ich alles nicht brauche!"

Die Freude des gewissenhaften Tuns

Laotse wiederum fiel mir sofort ein mit seiner Aussage:

„Ist das Werk geäußert - entäußere dich ihm.“

Ein Satz, der mich selbst immer wieder daran erinnert, mich nicht mit den Früchten meiner Handlung zu identifizieren. Und der mir hilft, mich immer wieder zu konzentrieren auf die Freude, die jedem gewissenhaften Tun innewohnt, unabhängig von Erfolg oder Misserfolg der Handlung. Meinen Patienten, die sich damit schwertun, erzähle ich auch gerne von jenem Künstler, der mir einmal sagte:

„Der Prozess des Schaffens gehört mir - das Bild dem Betrachter …“

Welche Freiheit, welche Lebensfreude, so zu arbeiten!

Die Kunst des Handelns

Und wenn es um Lebensfreude und Freiheit geht, teile ich gerne die von mir in der Therapie häufig verwendeten Fragen, die sowohl ermahnen als auch dabei helfen, frei zu bleiben oder es wieder zu werden: "Trinkst du noch – oder wirst du schon getrunken? Rauchst du noch – oder wirst du schon von der Zigarette geraucht? Konsumierst du noch – oder wirst du schon konsumiert? Besitzt du noch – oder wirst du schon von deinem Besitz besessen? Handelst du noch – oder wirst du schon von deinem Handeln aufgefressen?"

Die Kunst des Handelns besteht offensichtlich darin, weniger zu tun und mehr zu erreichen. Idealerweise im richtigen Moment nichts zu tun und alles zu erreichen. Handeln durch Nichthandeln nannte es der alte Laotse.

Wie wird die höchste Leistung erzielt?

Meine Kollegen aus dem Bereich der Arbeitspsychologie beschreiben es nüchtern so: Bist du zu wenig motiviert, etwas zu tun, wirst du nicht die volle Leistung erzielen können. Bist du übermotiviert etwas zu tun, wird ebenfalls nicht mit einem sehr guten Ergebnis zu rechnen sein, weil du dich dann in der Gefahr befindest, im Übereifer vor lauter Wald die Bäume nicht mehr zu sehen.

Die höchsten Leistungen hingegen erzielst du, wenn du motiviert, engagiert, konzentriert und gleichzeitig innerlich gelöst an deine Arbeitsprojekte herangehst. So zu arbeiten, dass du dich im Flow befindest, innerlich ganz entspannt, und sich die Arbeit  gewissermaßen von alleine erledigt, während du dich innerlich als entspannter, stiller Zeuge dieses Tuns im Zustand des Nichthandelns befindest. Die wissenschaftliche Formulierung dazu lautet: Bei mittlerer Leistungsmotivation wird in den meisten Fällen die höchste Leistung erzielt.

Die Freiheit im Tun und Lassen

Die eindrucksvollste Veranschaulichung der Freiheit im Tun und Lassen konnte ich vor vielen Jahren im Museum für Asiatische Kunst in Berlin beobachten. Eine Woche lang arbeiteten hier zwölf tibetische Mönche von morgens bis abends an einem wunderschönen farbigen Mandala, bestehend aus feinsten Sandkörnchen und allerfeinstem Blütenstaub. Eine Holzplatte auf einem Tisch von etwa zwei mal zwei Metern bildete die Grundlage dieses Kunstwerks. Die Besucherinnen und Besucher konnten mitverfolgen, wie das immer intensiver strahlende Mandala unter der konzentrierten Arbeit der Mönche entstand. Am siebten Tag war das Werk vollendet.

Die zwölf Tibeter saßen nun in offensichtlich tiefer innerer Heiterkeit des Herzens davor und ließen sich von der Schönheit und Wirkung des von ihnen erschaffenen Bildes berühren. Nach einer kleinen Zeremonie, einem gemeinsamen Gesang der Mönche mit wohltuenden, tiefen, gutturalen Lauten in tibetischer Sprache, geschah etwas für uns westliche Menschen sehr Ungewöhnliches: Jeder der zwölf Mandala-Künstler nahm einen kleinen Handbesen aus seinem Mönchsbeutel und fegte den Platz vor sich frei. Ruhig, zentriert, achtsam, liebevoll. Als auch das letzte Sandkorn in dem dafür vorgesehenen Beutel verschwunden war und die Holzplatte, wie vor Beginn der siebentägigen Arbeit, wieder unberührt dalag, standen die tibetischen Mönche auf, verneigten sich vor dem nunmehr leeren Tisch und verließen ruhigen Schrittes den Saal, um sich wieder zurück in ihre klösterliche Abgeschiedenheit zu begeben.

Was mich dabei besonders beeindruckte, war die konzentrierte, hingebungsvolle Art zu arbeiten und die Tatsache, dass ich zu keinem Zeitpunkt bei irgendeinem der Mönche einen Beifall heischenden Blick in die Runde sah. Weder während der Entstehung, noch nachdem das Mandala fertiggestellt war. Und am erstaunlichsten fand ich, dass ich bei keinem von ihnen einen Ausdruck des Bedauerns feststellen konnte, als sie ihr Werk gemeinsam wieder zusammenfegten. Für mich war das die tiefste Erfahrung gelebter Umsetzung der tiefen Weisheit von Laotse:

Ist das Werk geäußert - entäußere dich ihm.


Dein

Gert Kowarowsky

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