Dieser Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" handelt vom Verzeihen und Nachgeben in allen Arten von Beziehungen.
Da du vermutlich nicht allein auf einer einsamen Insel lebst, sondern vielfältige Beziehungen zu unterschiedlichen Menschen hast, wirst du immer wieder Situationen erleben, in denen ein anderer Mensch dir weh tut. Oder psychologisch korrekt gesagt: Du fühlst dich verletzt durch Handlungen oder Worte deiner Bezugspersonen. Besonders leicht passiert das innerhalb einer Partnerschaft, weil hier die Gefühle besonders intensiv sind, die schönen wie auch die unangenehmen. Je schmerzhafter für dich eine verletzende Erfahrung ist, desto klarer scheint es zu sein, dass der oder die andere dir ein Unrecht angetan hat. Und damit stehst du vor der herausfordernden Frage, ob du das verzeihen willst und kannst oder auch nicht.
Frage dich aber zunächst, ob überhaupt etwas Unrechtes vorgefallen ist. Vielleicht war es ein Missverständnis? Eine ganz unabsichtliche Kränkung? Eine Überempfindlichkeit deinerseits? Sprich mit der anderen Person darüber, sprich mit unparteiischen Dritten darüber. Hat dein Partner sich neu verliebt und verlässt dich? Für dich mag es gefühlt der Super-GAU sein, und doch ist eine neue Liebe nicht per se ein Fehlverhalten.
Wenn dir aber wirklich ein Unrecht angetan wurde, kommt die Frage nach Verzeihen und Nachgeben als Herausforderung auf dich zu.
Es ist alles andere als leicht, in jedem Moment klare Antworten zu finden auf die Fragen:
Verzeihen – hier lade ich meine Patientinnen und Patienten immer wieder ein, ganz besonders genau hinzuschauen. Wem schenkst du etwas, wenn du verzeihst?
Es ist eindeutig wahr: Wenn du dem anderen aufrichtig verzeihst, tust du zuallererst dir selbst etwas Gutes. Dein Herz wird wieder weich, dein Atem geht wieder tiefer, deine Muskeln und dein Magen entspannen sich wieder. Mit dem Verzeihen wird ruhiger Schlaf wieder möglich, der verengte Blick weitet sich, deine Leichtigkeit und deine Heiterkeit der Seele nehmen vorhersagbar in kürzester Zeit wieder zu.
Paradoxerweise schließt das jedoch nicht aus, dass du dich entscheiden kannst, die Beziehung mit diesem Menschen zu verlassen. Dies rate ich vor allem denjenigen, die damit rechnen müssen, erneut und wiederholt mit traumatisierendem Verhalten des Gegenübers konfrontiert zu werden.
Verzeihen bedeutet nicht, einverstanden zu sein mit dem, was dein Gegenüber getan oder gesagt hat. Es bedeutet auch nicht, ein Unrecht zu relativieren oder gar gutzuheißen. Wenn du verzeihst, verzichtest du jedoch deinem eigenen Herzen zuliebe aus deiner eigenen Entscheidung heraus auf Vergeltungsmaßnahmen. Verzeihen bedeutet zuallererst: Du entscheidest dich, nicht in Verbitterung und Herzenskälte abzurutschen, sondern dein Leben wieder in Leichtigkeit weiterzuleben – trotz des Erlebten. Und dies ist dir immer möglich, unabhängig davon, ob der andere sein Unrecht einsieht und es selbst bereut oder nicht.
Du verzichtest auf Krieg und entscheidest dich für Liebe zu dir selbst.
Zum Glück ist es oft sogar möglich, zusammen mit dem Menschen, dem du eben verziehen hast, in erneuter gemeinsamer Liebe und Leichtigkeit zu leben. Vor allem dann, wenn dein Gegenüber sein Unrecht einsieht und sein problematisches Verhalten zu ändern bereit ist.
Make love, not war: Was immer geschehen sein mag - du kannst dich immer wieder für Liebe statt Krieg entscheiden.
Und vergiss nicht, dass das auch in der Beziehung zu dir selbst gilt.
Entscheide dich von daher auch immer wieder, dir selbst zu verzeihen. Auch dir selbst gegenüber gilt: Make love, not war. Und immer dann, wenn du den inneren Krieg gegen dich selbst durch Verzeihen beendest, wird dein Blick wieder heller und du kannst dann auch wieder liebevoller sein mit all den Menschen, mit denen du in Beziehung stehst. Verzichte auf Selbstbeschuldigungen, verzeihe dir und versprich dir in Zukunft dein Verhalten zu ändern – und falls nötig systematisch vorzugehen und zu lernen, wie du dich das nächste Mal besser verhalten kannst in der Situation, in der du dich ungut verhalten hattest.
Nachgeben – das bedeutet nicht, dich aufzugeben. Es bedeutet jedoch genau hinzuschauen, wem gerade was besonders wichtig ist und wer von beiden gerade leichter darauf verzichten kann, dass es seinen Vorstellungen gemäß laufen soll.
"Gib niemals nach! ..." – so rate ich meinen Patientinnen und Patienten, jedoch immer mit dem Zusatz: "… aus Angst vor Konflikten, aus Angst vor Streit, aus Angst vor dem Verlassenwerden."
Gib immer nur dann nach, wenn du spürst, dass du jetzt der Reichere bist, der zu geben vermag. Und schaue jedes Mal ganz genau und kritisch hin, wenn du bereit bist nachzugeben. Bestehe dir selbst gegenüber darauf, dass du ehrlich Antwort gibst auf die Frage: "Bin ich jetzt gerade bereit nachzugeben, weil ich die Auseinandersetzung vermeiden möchte, oder gebe ich nach, weil ich dies dem andern als Geschenk geben möchte?"
Und sei dir dabei bewusst: Ein Geschenk ist Nachgeben nur dann, wenn du auch prinzipiell in der Lage dazu wärst, bei deiner Position zu bleiben und fähig und willens wärst, die Konsequenzen daraus zu akzeptieren.
Wenn dein inneres Programm in deinen dir wichtigen Beziehungen darin besteht zu denken: "Ich gebe dir in allem nach, was du dir wünschst – Hauptsache, du liebst mich und verlässt mich nicht", dann gilt es zu lernen, nein zu sagen, wenn du Nein meinst und nur dann ja zu sagen, wenn du auch wirklich Ja meinst. Sonst führst du ständig Krieg gegen dich selbst unter der Flagge: "Ich gebe doch dem anderen Liebe."
Verzeihe dir und den Menschen, mit denen du in deinem Leben in Beziehung stehst, so oft wie es dir nur irgend möglich ist.
Und gib auf gesunde Art und Weise nach: dir selbst, wenn du einen sehr wichtigen Wunsch hast, den aufzugeben eine Selbstverletzung bedeuten würde. Und gib deinem Gegenüber nach, wenn du merkst, wie wichtig es für den anderen ist. Aber gebe ohne Ausnahme immer nur dann nach, wenn dir das ohne Selbstverletzung möglich ist.
Make love, not war: Das ist eines der wichtigen Rezepte hin zu mehr Lebensfreude – für dich und deine Beziehungen.
Dein
Gert Kowarowsky
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