In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" geht es um die Frage, wie wir anderen helfen können, eine Krise durchzustehen.
Krisen sind ganz sicherlich die schwierigsten Abschnitte auf unserer Lebensreise, auch wenn wir nicht selbst betroffen sind, sondern andere Menschen dabei begleiten. Allen Krisen liegt immer auch die tröstliche Aussicht inne, dass es ein Leben nach der Krise geben wird. Doch ist der Blick darauf für die Betroffenen meist versperrt. Denn wenn ich in einer Krise bin, befinde ich mich in einem Zustand der Verzweiflung, in einem Zustand vermeintlicher Aussichtslosigkeit – genau das kennzeichnet ja die Krise.
Wenn Patienten in einer Krise zu mir kommen, sagen sie nicht selten Sätze wie: "Es geht nicht mehr vor, es geht nicht mehr zurück, aber Stehenbleiben geht auch nicht …"
Welche Strategien sind in solchen Situationen hilfreich, um unsere Liebsten, unsere Freunde, unsere Menschen, die uns am Herzen liegen, durch solch schwierige Lebensphasen begleiten zu können? Grundlegend hilft es auf jeden Fall, uns bewusst zu machen, was es tatsächlich bedeutet, in einer Krise zu sein, nämlich:
So wie bisher kann es nicht weitergehen.
Das ist aber keine Katastrophe! Im Gegenteil, die Notwendigkeit, etwas anders machen zu müssen als bisher – weil das Alte nicht mehr funktioniert –, kann sehr wohl neue Wege eröffnen.
Das Wort Krise bedeutet nicht nur schmerzliche Zuspitzung, sondern eben auch: Wendepunkt. Das lässt uns unsere Lieben entspannter durch die Krise begleiten. Zusätzlich können wir die drei wichtigsten Hilfestellungen zur Anwendung bringen:
Die bloße Tatsache, in einer Krise nicht alleine zu sein, sondern Menschen um sich zu wissen, die einem wohlgesonnen sind, ist ein sehr stabilisierender, überlebenssichernder Faktor. Der Beatles-Song: "With a little help from my friends" ist die Hymne schlechthin für diesen Beitrag, mit dem wir uns gegenseitig zu unterstützen vermögen.
Mir gefällt die Geschichte von dem König, der sich in einer tiefen Krise befand und all die Weisen seines Landes um Hilfe bat. Doch niemand vermochte ihm zu helfen. Das heißt, „niemand“ ist nicht ganz wahr. Ein alter Mönch ließ ihm eine kleine Truhe aus Walnussholz schicken, mit der Anweisung: "Ich höre, dir geht es im Moment wirklich schlecht. Doch bitte versuche mit allen Mitteln, die dir zur Verfügung stehen, durch diese Krise zu kommen. Erst wenn du alles, aber auch alles probiert hast und sich nichts geändert hat und du immer noch verzweifelt bist, dann – aber erst dann, darfst du diesen kleinen Behälter öffnen."
Der König tat, wie ihm geheißen, und kam dennoch an den Punkt an, an dem wirklich, wirklich nichts mehr vorwärts und rückwärts ging. Er öffnete also die Walnuss-Schachtel und fand darin einen kleinen zusammengefalteten Zettel. Er entfaltete diesen und las die Worte, die all seine Zellen durchfluteten:
„Auch das geht vorüber!“
In der heutigen wissenschaftlichen Zeit wurde in der Psychotherapieforschung die Wirksamkeit dieses Satzes wiederholt bestätigt. Gelingt es uns, den Menschen, die sich in einer Krise befinden, zu vermitteln, dass eine Veränderung der aktuellen Situation auf jeden Fall eintreten wird, induzieren wir damit eine Besserungserwartung, selbst wenn wir erst einmal noch keine konkreten Lösungsschritte dazu aus dem Handgelenk schütteln können. Damit sind wir auf jeden Fall eine sehr nützliche und stabilisierende Reisebegleitung durch die Krise.
Wichtig ist es mir an dieser Stelle zu betonen, dass ich damit keine „militante Positivität“ meine, die sich weigert anzuerkennen, dass krisenhafte Situationen auch zuerst einmal zu sehr unerwünschten Veränderungen führen können. Zu sagen „Das kann sein, dass der schlimmste Fall eintritt“, halte ich auf jeden Fall für menschlicher und freundschaftlicher, als mich rigoros zu weigern, mit meinem Gegenüber das Schlimmste zu bedenken. Das Schlimmste gemeinsam zu bedenken und das Beste zusammen zu hoffen, zählt aus meiner Sicht zu dem authentischsten hilfreichen Freundschaftsverhalten in jeder Krise.
Je tiefer sich jemand in der Idee der Ausweglosigkeit verstrickt hat, desto weniger ist er in der Lage, lösungsorientiert zu denken. Fragen an den Verzweifelten oder die Verzweifelte können hierbei hilfreicher sein, als die eigene Suche nach guten Antworten für sie oder ihn. Fragen, die helfen können neue Horizonte zu öffnen, sind zum Beispiel:
"Was würdest DU jetzt deinem besten Freund, deiner besten Freundin raten, wenn sie bei dir anrufen und dir genau die gleiche Situation schildern würden, in der du dich gerade befindest?"
Das Spannende ist, dass wir selbst oft ein Brett vor dem Kopf haben, wenn es um eigene Probleme geht, aber sehr wohl gute Beraterinnen und Berater sein können, wenn es um die Probleme anderer Menschen geht.
Eine ähnliche Frage lautet etwa:
"Was würde jetzt wohl eine Person tun oder denken, die genauso alt ist wie du und sich in der gleichen Situation befindet wie du jetzt, die dabei jedoch ganz cool und zuversichtlich bleiben würde?"
Spannend ist hier: Ich selbst habe keinen Plan, sonst würde ich mich ja nicht in der Krise befinden, aber ich kann mir manchmal dennoch vorstellen, wie jemand denken und handeln würde, der damit „cool“ umgehen würde. Diese Frage kann also dabei helfen, wie im Schachspiel einmal um die Ecke zu denken, um dann doch eine oder sogar mehrere mögliche Handlungsoptionen sehen zu können.
Und eine Frage, die den Horizont ganz weit zu öffnen vermag, geht über das Alltagsdenken hinaus:
"Wenn es in diesem ganzen Unerwünschten, was du jetzt gerade an der Backe hast, einen tieferen Sinn geben könnte, eine Lernaufgabe des Universums zum Beispiel, das dir helfen möchte zu wachsen, worin könnte dieser Sinn bestehen? Zu welchem persönlichen Wachstum könnte dich diese Situation animieren wollen? Hin zu welchen Fähigkeiten, dich zu entwickeln, könnte diese Situation gut sein?"
Und manchmal kann es auch hilfreich sein, unserem lieben Leidenden, den wir begleiten, Rilkes "Brief an einen jungen Dichter" vorzulesen:
Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten.
Und es handelt sich darum, alles zu leben.
Leben Sie jetzt die Fragen.
Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.
Dein
Gert Kowarowsky
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