Ist unsere Psyche die Summe unserer Erfahrungen oder spielen auch die Erlebnisse unserer Vorfahren eine Rolle? Dieser ABC-Beitrag klärt auf und gibt Hilfestellungen.
Transgenerationale Weitergabe beschreibt seelisch belastende oder traumatische Erfahrungen, die unverarbeitet bleiben und sich auf nachfolgende Generationen – also die Nachkommen – übertragen können. Was haben wir von unseren Eltern, den Vorfahren oder früheren Generationen übernommen? Wie sehr beeinflussen uns Geschichten, von denen wir vieles nur erahnen können, da wir es nicht selbst erlebt haben? Manches können wir selbst ergründen – durch Bewusstwerdung, Herleitungen und Rekonstruktion. Doch vieles bleibt verborgen.
Das Wissen um die transgenerationale Weitergabe solcher unverarbeiteter Eindrücke kann Menschen helfen, ihre psychische und emotionale Situation und ihre seelischen Äußerungen und Reaktionen besser zu verstehen. Vor allem Therapeut:innen, die mit tiefenpsychologischen und systemischen Ansätzen und Methoden arbeiten, wie zum Beispiel der Familienaufstellung, beschäftigen sich vermehrt mit der transgenerationalen Weitergabe und vererbten Traumata.
Geschichten unserer Eltern und Vorfahren erscheinen uns manchmal wie Relikte aus einer anderen Zeit, auch wenn wir heute schmerzlich ähnliches erfahren oder davon Kenntnis nehmen müssen:
Einzelschicksale, Familiengeschichten und gesellschaftliche Katastrophen in früheren Generationen können uns als Nachkommen immer noch beeinflussen und emotional aufwühlen. Meist geht es dabei um Vorkommnisse, die uns je nach Ausmaß unvorstellbar, ja kaum tragbar erscheinen und die wir zwar nicht selbst, aber beispielsweise in Reaktionen und Handlungen unserer Vorfahren wahrnehmen:
Wir bemerken diese Zeichen auch auf nonverbaler Ebene.
Erfahrungen prägen uns – bleiben sie unverarbeitet, können sie sich umso stärker auf unsere Seele auswirken. Haben unsere Eltern und Vorfahren selbst besonderen Stress, ja sogar Traumatisches erlebt, wie etwa Ablehnung oder Bestrafung, oder waren sie Zeuginnen oder Zeugen oder Opfer von schmerzlichen Geschehnissen in der Familie, beeinflusst das ihre Gefühle und ihr Verhalten den Kindern gegenüber.
Auch wenn der Alltag unseres eigenen Lebens uns vordergründig ganz einnimmt, können diese Eindrücke sich auch auf unsere Seele übertragen. Das geschieht vor allem, wenn sie nie bewusst angesprochen wurden. Mittlerweile wird in Teilen der neurologischen Forschung auch davon ausgegangen, dass nicht verarbeitete frühere Erfahrungen in unserem Körper gespeichert sind und sich sogar bis auf Gen-Ebene manifestieren können.
Das Problem dabei: Die generationale Weitergabe äußert sich dann oft in diffusen Gefühlsausbrüchen, die wir nicht verorten können. Wir erleben zum Beispiel leichter übermäßigen Stress, diffuse Ängste, Bedrücktheit, Misstrauen, Unbehagen, Blockierung und Unfreiheit – ohne wirklich immer sagen zu können, woher das kommt oder was diese negativen Gefühle verursacht hat.
Wenn wir bestimmte Gefühle nicht bewusst herleiten oder einordnen können, kann es dazu kommen, dass wir dadurch unbewusst in bestimmte Muster, Gewohnheiten oder Schemata verfallen, um damit umzugehen. Nur kann dieses Verhalten auch schädlich für uns und andere werden. Ein verbreitetes Beispiel hierfür sind destruktive Beziehungen, innerhalb derer beide Partner:innen das toxische Beziehungsmuster ihrer Eltern wiederholen – jede und jeder auf die eigene Weise und nach eigenen Mustern.
Daher lohnt es sich, immer wieder sich selbst und seine Handlungen zu hinterfragen:
Haben wir bestimmte Muster von unseren Eltern und Großeltern übernommen, um negative Emotionen zu vermeiden oder bestimmten Situationen aus dem Weg zu gehen, auch wenn uns diese Muster nicht fördern?
Was auch immer sich in unserer Familiengeschichte zugetragen hat: Wir können lernen, ein anderes Bewusstsein dafür zu entwickeln. Wir können lernen, Geschichten nicht mehr zu verdrängen, sondern innerhalb der Familie generationsübergreifend und offen zu besprechen. Das ist oftmals kein leichter Schritt, weil wir so riskieren, alte Wunden wieder aufzureißen. Aber es ist meistens der beste Weg, gemeinsam Wunden zu heilen und zu verzeihen.
Das aktive und offene Ansprechen von negativen Erfahrungen früherer Generationen, selbst über vorsichtige Vermutungen, kann neue Wege für alle eröffnen. Klarheit über das, was ist und warum es so ist, kann uns helfen, Gefühle, Gedanken und Handlungen einzuordnen. Wir als Nachkommen müssen nicht für alle und alles die Verantwortung übernehmen, sondern für uns selbst – und das ist ein Lern- und Entwicklungsprozess. Wir können Geschehenes nicht mehr ändern oder jemanden retten und doch einen neuen Blick auf die Vergangenheit und damit die Zukunft wagen. Und das ist wichtig, vor allem auch für unseren Seelenfrieden und unsere Beziehungen zu unserer Partnerin und Partner und zu unseren Kindern. Denn für uns und für sie tragen wir Verantwortung.
Was wurde in der Familiengeschichte nicht erlaubt, war nicht möglich oder sogar unverzeihlich, und was können wir heute bewusst abstreifen? Welche neuen Gewohnheiten können uns dabei helfen, anders mit unerwünschten Situationen umzugehen und sie weniger in unser Leben zu lassen? Welche neuen Gefühle, Gedanken und Handlungen möchten wir kultivieren, um damit unser ureigenes Leben zu stärken? Welche neuen Dynamiken möchten wir entwickeln? Welche Art von Beziehungen möchten wir führen? Was brauchen wir dafür?
Bei psychischen Problemen, die nicht alleine bewältigt werden können, wird professionelle Hilfe, etwa durch eine ärztliche oder psychologische Fachperson, empfohlen.
Resilienz aufzubauen bedeutet zu wissen, was man tut, wenn Verletzungen geschehen.
– Christine Weiß
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