In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" zeigt Gert Kowarowsky, wie wir in der Beziehung zu unseren Eltern eine positive Verbindung schaffen und uns selbst achten können.
Zentrales Thema in vielen meiner Therapien ist der Umgang mit den eigenen Eltern. Geht es darum, mit deinen Eltern auszukommen oder ihnen zu entkommen? Für mich als Therapeut liegt bei dieser grundlegenden Entscheidung in erster Linie der Fokus darauf, wie es DIR mit deinem Verhalten deinen Eltern gegenüber geht.
Im Idealfall fördern positive Eltern-Kind-Beziehungen das Selbstwertgefühl, stärken unsere emotionale Sicherheit, machen uns resilient gegenüber Stress, Angst, Depressionen und unterstützen uns darin, gesunde zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Im Idealfall freuen sich unsere Eltern über unsere Ankunft in ihrer Welt. Im Idealfall schauen sie mit positiv wertschätzendem Blick auf uns, sind zuverlässig begleitend und unterstützend da für uns. Im Idealfall geben sie uns genügend Raum für Entwicklung und achten definitiv unsere Grenzen – körperlich wie emotional.
Im Idealfall …
Dieser Idealfall ist jedoch selten gegeben. Kaum einer der Menschen, mit denen ich bisher gesprochen habe, konnte sagen: „Ja, ich wurde von meinen Eltern geliebt; ja, ich war ihnen wichtig; ja, sie waren zuverlässig für mich da; ja, sie haben mich unterstützt; ja, sie haben mir angemessene Freiräume ermöglicht; ja, sie haben meine physischen und psychischen Grenzen respektiert.“
Und eben deshalb stellt sich die Frage oft so schmerzlich:
Kann und will ich es mir antun, den Kontakt mit meinen Eltern aufrechtzuerhalten, obwohl ich mich nach jedem Besuch fühle, als sei ich aus einer Schlacht nachhause gekommen? Kann und will ich es meinen Eltern antun, den Kontakt mit ihnen völlig abzubrechen, nur weil ich mich mit ihnen nicht wohlfühle?
Will ich mit ihnen auskommen - oder will ich ihnen entkommen?
Um dir diese Frage beantworten zu können, ist es wichtig zu schauen, wie es DIR damit geht, dich für die eine, die andere oder eine ganz andere Alternative zu entscheiden.
Erforsche für dich, was dein Leben in dieser Hinsicht bereichert, was dir guttut, was dir hilft zu wachsen. Spüre in dir nach, welche Erfahrungen du typischerweise machst, wenn du gemeinsame Zeit mit deinen Eltern verbringst. Hilfreich für diesen Selbsterkenntnisprozess kann die Beantwortung der folgenden drei Fragen sein:
Obwohl diese Fragen sehr oft bejaht werden müssen, haben dennoch viele meiner Patientinnen und Patienten ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, sich das von nun an zu ersparen. Und das ist nicht verwunderlich. Dieses schlechte Gewissen den Eltern gegenüber hat eine lange Tradition. Dieses schlechte Gewissen ist nämlich eher ein kollektives als ein individuell verankertes. Es ist tief in unserer abendländischen Kultur verwurzelt.
Annika brachte es in ihrer Therapie auf den Punkt, als wir an ihrer Biografie arbeiteten. Sie erkannte, was sie bis jetzt daran gehindert hatte, die sonntäglichen „Pflichtbesuche“ bei ihren Eltern einzustellen:
„Schon im Kommunionsunterricht habe ich das vierte Gebot gelernt: Du sollst Vater und Mutter ehren. Inzwischen bin ich aus der Kirche ausgetreten. Dennoch sitzt mir diese Forderung immer noch als moralisch-ethische Verpflichtung an mich selbst tief in allen meinen Zellen. Es erscheint mir unmöglich, nicht zu den von meinen Eltern anberaumten Familientreffen zu erscheinen.“
Jonas hingegen fand folgenden für ihn befreienden Gedanken, während er sich intensiv mit seiner Beziehung zu seinen Eltern beschäftigte:
„Viele Menschen suchen vergeblich ein Leben lang nach dem Glanz im Auge von Vater und Mutter. Nachdem ich in einem Vorlesungstext von Sigmund Freud diesen Satz gelesen hatte, war es, als sei ein Voodoo-Zauber von mir abgefallen. Ich fühlte mich plötzlich wie befreit. Ich kann jetzt mit 25 Jahren meinen Eltern als erwachsener Mann gegenübertreten und habe aufgehört, mich wie ein emotional bedürftiger Fünfjähriger zu fühlen, der unbedingt von seinen Eltern gesehen, gelobt und anerkannt werden möchte. Wenn es mir danach ist, meine Eltern zu besuchen, besuche ich sie – wenn nicht, dann nicht. Ja, ich finde es schade, wenn sie enttäuscht sind, wenn ich eine Einladung abschlage. Aber eben auch nicht mehr als bei anderen Menschen, denen gegenüber ich eine für sie enttäuschende Absage äußere.“
Was Jonas diese Freiheit seinen Eltern und damit auch anderen Autoritätspersonen gegenüber ermöglicht hat, war genau die Beobachtung von Freud, wie tief die Sehnsucht in jedem von uns verankert ist, von Vater und Mutter geliebt und anerkannt werden zu wollen. Und wie ungesund es ist, wenn dieser unerfüllte Wunsch uns auch noch als Erwachsene Vater und Mutter und jeden Ersatzvater und jede Ersatzmutter um Anerkennung anbetteln lässt, ohne Aussicht auf Erfolg.
„Viele Menschen suchen vergeblich ein Leben lang nach dem Glanz im Auge von Vater und Mutter.“
Ja, diese Formulierung von Freud führt zu einer neuen Freiheit.
Sie führt zu einer erweiterten Wahlmöglichkeit: Jenseits von gut auskommen „müssen“ oder entkommen „müssen“, entsteht die Freiheit, in angemessenem Ausmaß mit den Eltern in Austausch und Fürsorge zu sein, und die Freiheit, ohne schlechtes Gewissen eigene Wege zu gehen, im bewusst gewählten Verzicht auf ihre Wertschätzung und Anerkennung.
Erlaube auch du dir die Freiheit des Nichts-Müssens deinen Eltern gegenüber.
Deine Eltern haben ihre eigenen Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen. Du hast die Freiheit, Verständnis für ihre Perspektive zu entwickeln und empathisch darauf einzugehen. Du hast aber auch die Freiheit, dich ihrer Perspektive und ihren Forderungen gegenüber abzugrenzen.
Erlaube dir deine Einzigartigkeit. Erlaube dir eine für dich stimmige Beziehung zu deinen Eltern. Wenn dir intensiver, häufiger Kontakt zu deinen Eltern guttut – genieße es. Wenn dir jeglicher Kontakt mit ihnen schadet und dir Kontaktabstinenz guttut – genieße es.
Du hast vielleicht eine sehr enge Beziehung zu deinen Eltern, deine Freundin hat sie weniger. Wieder andere haben aus für sie gutem Grund jegliche Beziehung zu ihren Eltern abgebrochen.
Allgemeingültige Regeln gibt es nicht. Die wichtigste Frage bleibt einfach diese:
Tut es mir gut, Zeit mit meinen Eltern zu verbringen?
„Wenn du kannst - hilf aus deiner Fülle. Falls nicht - schone dich. Wenn du nämlich mit dir selbst schlecht umgehst, wem bist du dann gut?“
Hilfreich ist in solchen Momenten auch, mit einer Person zu sprechen, von der du weißt, dass sie dein Wohl im Auge hat. Falls das immer noch nicht ausreicht, hole dir professionelle Hilfe.
Dir das Allerbeste!
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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