Entspannte Begegnungen im Feld aller Möglichkeiten – #120

In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" spricht Gert Kowarowsky darüber, was wir gewinnen, wenn wir Widersprüche aushalten und offen in jedes neue Gespräch gehen.

Entspannte Begegnungen im Feld aller Möglichkeiten – #120
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Als Lena zu mir kam, war sie sehr verzweifelt: "Ich kämpfe in jedem Gespräch, als ginge es um Leben und Tod. Ich weiß, dass ich sehr leicht beeinflussbar bin und mich leicht verunsichern lasse. Und genau deshalb habe ich mir eine ganz ungute Art und Weise angewöhnt, mit anderen zu diskutieren. Selbst wenn ich nach einer Weile in Diskussionen mit anderen merke, dass meine Position doch nicht so glorreich ist, wie ich anfangs dachte, halte ich daran fest, als ginge es um mein emotionales Überleben. Bei jedem Gespräch ist in mir so etwas wie: 'Ich muss meine Meinung durchsetzen. Ich muss auf jeden Fall recht haben, sonst bin ich die totale Looserin.' Ich weiß, dass das bescheuert ist, aber ich hab bisher noch keinen Weg gefunden, aus dieser Nummer wieder rauszukommen."

Mir fiel spontan Rumi dazu ein. So sagte ich zu Lena: "Vielleicht kannst du nicht sofort etwas damit anfangen, dennoch möchte ich es mit dir teilen. Der Sufi-Meister, Gelehrte und Dichter Rumi formulierte schon 1240 die Formel für entspannte Begegnungen mit jedem Menschen auf unserem Lebensweg so:

Draußen, vor der Vorstellung von Rechtmachen und Falschmachen, ist ein Feld. Dort will ich mich mit dir treffen."

Erlaube dir Offenheit im Zuhören und Erzählen

Ein schönes Bild. Zwei Menschen treffen sich draußen auf der Wiese. Setzen sich einander gegenüber und fühlen sich frei, das, was in ihnen ist, dem Gegenüber mitzuteilen. Genau so wie es der eigenen Wahrheit entspricht. Und jede:r ist bereit, der oder dem anderen offen zuzuhören. Wohl wissend, dass in jeder und jedem immer nur die ganz spezifische persönliche Repräsentation davon vorliegt, was es in der Welt an Zahlen, Daten, Fakten gibt.

Forschende beschreiben es in ihrer eigenen, manchmal komplizierten Sprache so:

Wissen ist strukturiert im Bewusstsein.

und

Wissen ist verschieden in verschiedenen Bewusstseinszuständen.

Wenn du jemanden triffst, teile dich mit. Lass dein Gegenüber wissen, was du über einen bestimmten Sachverhalt denkst. Wie siehst du das? Welche Erfahrungen hast du bereits damit gesammelt? Was hast du bereits darüber von anderen gehört? Aus welchen Grundüberzeugungen und Glaubenssätzen heraus bist du zu dieser Meinung gekommen? Welche Schlussfolgerungen ziehst du daraus? Wie fühlst du dich in Bezug auf das Thema? Welche Handlungsimpulse verspürst du in dir dazu? Was möchtest du tun oder lassen? Kurzum: Was ist in dir dazu, in genau dem Bewusstseinszustand, in dem du hier und jetzt bist?

Wenn du jemanden triffst, höre offen zu. Bemühe dich zu verstehen, aus welchem Bewusstseinszustand heraus dein Gegenüber das denkt, was sie oder er darüber denkt. Welche Erfahrungen hat dein Gegenüber damit? Welche Informationen liegen deinem Gegenüber dazu vor? Aus welchen Grundüberzeugungen und Glaubenssätzen heraus hat sie oder er die Meinung, die sie oder er dazu hat? Welche Schlussfolgerungen zieht dein Gegenüber daraus? Wie fühlt sie oder er sich in Bezug auf das Thema? Welche Handlungsimpulse verspürt dein Gegenüber in sich dazu? Was möchte sie oder er tun oder lassen?

Achte auf die Veränderungen, die du in dir spürst, wenn du in dieser Haltung in die alltäglichen Begegnungen mit anderen gehst.

Keine Notwendigkeit zu kämpfen. Kein Highlander-Feeling von: "Es kann nur eine oder nur einen geben!"  Keine Notwendigkeit für Verunsicherung. Du sagst, was in dir ist. Dein Gegenüber sagt, was in ihr oder in ihm ist.

Habt ihr zwei verschiedene Sichtweisen auf einen Sachverhalt, kannst du für dich überprüfen, welche Aspekte, die dir zuvor nicht bekannt waren, dir eine Erweiterung deines Blicks auf das Thema ermöglichen. Du kannst dich dazu entscheiden, deinem Gegenüber jederzeit zu erlauben, dass sie oder er deiner Sichtweise widersprechen darf. Du kannst dir anhören, was dagegen spricht. Du kannst entscheiden, ob du dennoch bei deiner Meinung bleiben oder sie ändern möchtest, weil jetzt neue, bessere Argumente vorliegen.

Pflege eine Kommunikation, die Widerspruch möglich macht

Es geht nie um deinen Wert als Mensch. Es geht nie um deine Person. Es geht immer nur um eine Sichtweise auf einen bestimmten Sachverhalt. Und Sichtweisen, Meinungen, Überzeugungen sind eben verschieden in verschiedenen Bewusstseinszuständen. Verschieden nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch verschieden in ein und demselben Menschen.

Wenn du Hunger hast, wenn dir kalt ist, wenn es dir zu heiß ist, wenn du müde bist, wenn du dich gerade gestresst fühlst, wirst du die gleiche Situation unterschiedlich bewerten. Je nach deinem Bewusstseinszustand wirst du ein und dieselbe Situation sehr verschieden wahrnehmen, sehr verschiedene Gedanken darüber haben, sehr verschiedene Kommentare dazu abgeben.

Ich ermutigte Lena zu einer Verhaltensübung: "Experimentiere die nächsten vier Wochen, wie es sich für dich anfühlt, wenn es ab jetzt nicht mehr um dein Ego geht, sondern immer nur um deine aktuelle Sichtweise auf ein bestimmtes Thema. Experimentiere in jedem Gespräch mit anderen damit, deine Sicht der Dinge klar und deutlich zu äußern in dem Bewusstsein: Ja, so sehe ich das jetzt in diesem Moment. Ja, davon bin ich überzeugt. Ja, und ich bin offen dafür, mir jeden Widerspruch, der in dir dazu auftauchen mag, anzuhören. Ich bin mir der Relativität meines Wissens bewusst. Und ich bin mir der Relativität des Wissens meines Gegenübers bewusst.

Ich entscheide mich dafür, vier Wochen lang eine Kommunikation zu pflegen, die jeglichen Widerspruch möglich macht. Ich lasse für die nächsten vier Wochen in jedem Gespräch in meinem Hinterkopf die Leuchtschrift blinken:

Widerspruchsermöglichende Kommunikation.
Widerspruchsermöglichende Kommunikation.
Widerspruchsermöglichende Kommunikation.

Offenheit ist der Weg

Ich genieße es, mich in jedem Gespräch – inmitten der Großstadt, inmitten überfüllter Begegnungsräume, inmitten von Technik gefüllter Umgebungen – innerlich mit meinem Gegenüber auf eine blühende Wiese der Offenheit zu setzen. Jenseits von Rechthaben und Rechtmachen. Bereit, trotz der Verschiedenheit unserer Meinungen, trotz der Verschiedenheit unserer Wünsche, trotz der Verschiedenheit des Brennpunktes unseres Bewusstseins, die tiefe menschliche Wertschätzung und Verbundenheit nie aus den Augen zu verlieren.

Ich mag gegen das sein, was du sagst und was du denkst – aber ich bin nie gegen dich. Du magst gegen das sein, was ich sage und denke – und ich lade dich dennoch ein, in vollem Bewusstsein unserer verschiedenen Sichtweisen entspannt im Feld aller Möglichkeiten mit mir zu sein."

Freue dich darauf, immer wieder auf Menschen zu treffen, die von Lena inspiriert wurden, es ihr gleichzutun.

Dein Gert Kowarowsky

Erfahrungen aus der Praxis …

… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.

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