Folge 27: Wenn du zu dir selbst findest, bist du nie mehr einsam

In dieser Beitragsserie berichtet der Psychologe Gert Kowarowsky von den Erfahrungen aus seiner therapeutischen Praxis.

Folge 27: Wenn du zu dir selbst findest, bist du nie mehr einsam
© PAL Verlag

Viele Menschen fühlen sich besonders dann einsam, wenn sie ohne einen Vertrauten und einen Partner sind. Sie leiden sehr unter diesem Zustand, fühlen sich ohnmächtig und zweifeln an sich selbst. In therapeutischen Sitzungen nehme ich das Bild einer mythologischen Geschichte aus der Antike zu Hilfe, um die Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten und so einen unerwarteten Ausweg aus der seelischen Sackgasse zu finden.

Einsamkeit ist ungerecht

Nicht nur in Krisenzeiten, in denen unsere sozialen Kontakte stark eingeschränkt sind, kommen immer wieder Menschen zu mir in die Praxis, die unter ihrer Einsamkeit leiden: "Ich sehne mich nach nichts mehr als nach einem Partner – und ich leide so sehr darunter, keinen finden zu können …" Der Schmerz darüber wird meist noch zusätzlich vertieft durch die scheinbar wahre Beobachtung: "Ich finde es so ungerecht, dass alle, alle anderen einen Partner haben, nur ich nicht." Bevor wir dann gemeinsam ihre ganz individuellen Partnerschaftsproblematiken analysieren, erzähle ich meinen Patientinnen und Patienten gerne die mythische Geschichte Platons von den Kugelmenschen.

Die Geschichte von den Kugelmenschen

Platon zeichnet in seinem berühmten "Gastmahl" das Bild des Menschen, der ursprünglich ein Kugelwesen war, mit zwei Köpfen, vier Armen und vier Beinen. Dieser Mensch konnte entweder zweimal Mann, zweimal Frau oder gleichzeitig Mann und Frau sein. Keiner dieser Kugelmenschen fühlte sich je einsam, jeder fühlte sich stark und kreativ. Jeder genoss das Leben in vollen Zügen und keinem fehlte irgendetwas. Einsamkeit, Traurigkeit, Depression, Verzagtheit oder gar Lebensmüdigkeit waren diesen Kugelmenschen völlig unbekannt.

Die Kugelmenschen lebten so kraftvoll, so in sich zentriert, so voller Lebensfreude und ja, zugegebener Maßen, auch manchmal etwas zu übermütig, dass es den Göttern irgendwann zu viel wurde. Unter dem Vorsitz von Zeus beschlossen sie daher, jeden dieser Kugelmenschen zu teilen und die Hälften in alle Richtungen zu zerstreuen. Nur noch ein Kopf, nur noch ein Geschlecht, nur noch zwei Hände und zwei Beine. Die Zufriedenheit, die Kraft, die Kreativität waren mit einem Schlag dahin. Ab da waren alle Menschen mit der Suche nach ihrer zweiten Hälfte beschäftigt.

Im Anschluss überlegen wir dann gemeinsam, was es mit dieser Mythologie auf sich haben könnte. Geht es wirklich darum, die zweite Hälfte im Außen zu finden, um wieder Ganzheit, Geborgenheit, Freude, Kreativität, Schmerzfreiheit zu erleben?

Die innere Fülle entdecken

Welche Erfahrungen machen die Menschen, die die zweite Hälfte im Innen suchen? Ist es nicht so: Wenn wir sagen: "Ich liebe dich", meinen wir eigentlich: "Ich fühle in mir Fülle, Geborgenheit, Zufriedenheit und Glück, wenn ich mit dir zusammen bin."

Jedes Gefühl erleben wir immer in uns selbst. Wenn ich jemanden liebe, spüre ich dieses Gefühl des Liebens in mir – auch wenn der andere nicht da ist. Was hindert mich, in diesem Feld des Liebens zu sein, alleine mit mir in einer Höhle, alleine mit mir in meinem Zimmer, alleine mit mir, wo immer ich gerade sein mag? Wie einsam, wie angespannt, wie wenig geborgen fühle ich mich mitunter in menschlicher Gesellschaft und selbst mit meinem Partner, weil ich nicht in mir die Fülle spüren kann?

Finde dich selbst und dein Selbst

Den Menschen, die zu mir kommen mit der Überzeugung, dass sie innere Fülle nur durch eine Partnerschaft von außen erfahren können, sage ich: Lass uns Ausschau halten nach den Momenten, in denen du dich ganz für dich alleine wohlfühlst. Lass uns Ausschau halten nach den Situationen, in denen du in dir für dich alleine Fülle verspürst. Lass uns Ausschau halten nach all den Tätigkeiten, bei denen du dich ganz und glücklich fühlst. Lass uns Ausschau halten nach all den Gedanken, durch die du in dir das Feld der liebevollen Menschlichkeit spürst. Lass uns Ausschau halten nach den Wegen, die dir dabei helfen, Stille zu erfahren. Die dir ermöglichen, die Stille zwischen den Tönen zu hören, den Raum zwischen den Gedanken zu spüren, den Raum zwischen den Gefühlen, den Raum zwischen deinen Zellen und den stillen Raum in all den Dingen, die dich umgeben. Diese Ebene der Stille ist die erfüllende Essenz des Bei-dir-Seins, des In-dir-Seins, des inneren Ganz-Seins.

Je mehr dann die Erfahrung wächst, dich selbst, dein Selbst zu finden, spürst du in dir mehr und mehr Stille, Frieden, Liebe, Erfüllung. Dadurch ändert sich auf radikale Art und Weise die Erfahrung des Alleinseins, weg vom Einsamsein, zum All-Eines-Sein.

 

Dein

Gert Kowarowsky

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Marion schreibt am 14.02.2024

"Ich fühle in mir Fülle, Geborgenheit, Zufriedenheit und Glück, wenn ich mit dir zusammen bin."
Jedes Gefühl erleben wir immer in uns selbst. Wenn ich jemanden liebe, spüre ich dieses Gefühl des Liebens in mir – auch wenn der andere nicht da ist.

Diese Erklärung half mir zu einer tiefgreifenden Erkenntnis. Ich wusste schon lange, dass das Glück in mir wohnt. Trotzdem war ich ohne Partner oft unglücklich und suchte verzweifelt nach meiner konstanten Lebensfreude. Jetzt habe ich verstanden, wo ich Fülle, Zufriedenheit, Geborgenheit und Glück immer in mir finde.

Vielen Dank für diese hilfreichen Worte.


Nick schreibt am 24.01.2021

Einsamkeit hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun.
Einsamkeit ist sowohl subjektives Erleben als auch objektive Gegebenheit.
Gerechtigkeit ist eine Idee, die es seit der Antike gibt, unterschiedlich definiert.
Sie ist ein Produkt menschlichen Geistes.
Der Kugelmensch von Platon wurde oft in seiner Bedeutung kritisiert.
Er hat keinen Nutzen für die Beziehung zwischen Mann und Frau.


Inhalt des Beitrags   
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 Einsamkeit ist ungerecht
 Die Geschichte von den Kugelmenschen
 Die innere Fülle entdecken
 Finde dich selbst und dein Selbst
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