In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" erfährst du, wie du verlorengegangene Beziehungen, Phasen und Dinge durch Loslassen wiederfinden kannst.
Wer handelt, verdirbt - wer festhält, verliert.
Diese Worte von Laotse scheinen dem gesunden Menschenverstand zunächst zu widersprechen. Scheint doch das feste Halten die Voraussetzung dafür zu sein, nicht zu verlieren, und Handeln wiederum der beste Weg, zurückzugewinnen, wenn doch einmal etwas verloren gegangen ist.
Vielleicht erinnerst du dich aber auch an die Situationen, in denen etwas nicht mehr auffindbar war, und du es, ohne aktiv zu suchen, dennoch wiedergefunden hast. Manchmal suchst du lange und vergeblich nach einem vermissten Gegenstand, manchmal hast du einfach keine Zeit zum Suchen: Nicht selten fällt dir dann – wenn du selbst den Gedanken daran aufgegeben hast und entspannt unter der Dusche stehst – wieder ein, wo du es zuletzt hingelegt hast. Verzweifeltes, angespanntes Suchen ist da meist viel weniger erfolgreich.
In Bezug auf Partnerschaft oder Freundschaft verhält es sich oftmals ebenso. Wenn ihr euch aus gestresster Unaufmerksamkeit und zunehmender Lieblosigkeit immer weiter voneinander entfernt habt, vielleicht so weit, dass ihr euch verloren habt, findet meist ein schmerzliches Erwachen statt. Ihr merkt, was ihr am Gegenüber verloren habt. Wilde „Zurückholaktionen“ sind dann meist wenig hilfreich. Beschimpfen und Vorwürfe sind es ebenso wenig. Jede Handlung, die mit Druck oder schlimmstenfalls sogar mit Gewalt versucht zurückzugewinnen, was ihr verloren habt, ist zum Scheitern verdammt. Zuerst gilt es anzuerkennen, dass es so ist, wie es ist: Wir haben uns verloren. Ein Zurück, ein "Genauso-wie-vorher" kann es nicht mehr geben. Schon der griechische Philosoph Heraklit wusste:
„Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, denn alles fließt und nichts bleibt.“
Im Loslassen dessen, was war – dem Guten wie dem Schlechten – steigt jedoch die Chance auf ein erneutes Einander-Begegnen. Ein Begegnen, das bereit ist, dein Gegenüber neu zu sehen, neu zu hören, neu zu erleben. Ein Mensch, den du aus lauter Vertrautheit schon lange vor eurem Einander-Verlieren nicht mehr bewusst wahrgenommen hast, für den du bereits blind warst. Vor allem blind für all die positiven Seiten am Gegenüber. Der Tipp von Janosch lautet hierzu in seiner unnachahmlichen Art:
„Man bewirft die Person so lange mit Blumen, bis die Liebe wiederkommt. Die Blumen sollten dafür nicht mehr im Pflanztopf sein …“
Sich neu zu begegnen ist immer möglich. Ich gehe sogar so weit zu sagen:
Es ist vor allem eure Bereitschaft, euch jeden Tag neu und bewusst zu begegnen, die höchstwahrscheinlich dazu beiträgt, euch nicht zu verlieren.
Verlieren kannst du jedoch auch anderes, dir in deinem Leben Wichtiges: Wie gehst du damit um, wenn du deinen Lieblingssport nicht mehr ausüben kannst, weil es aufgrund einer Verletzung nie mehr möglich sein wird? Wie gehst du damit um, wenn dein bisheriger Arbeitsbereich wegfällt, durch Umstrukturierung oder eigene dauerhafte Arbeitsunfähigkeit? Wie gehst du damit um, wenn etwas, das bisher vermeintlich deine Persönlichkeit ausgemacht hat, nun nicht mehr in deinem Leben ist und auch nicht mehr zurückgeholt werden kann?
Mit innerer Verweigerung und krampfhaftem Festhalten entsteht nur Schmerz und Verzweiflung. Festhaltenwollen führt zum Verlust all deiner Lebensfreude.
Radikale Akzeptanz des So-Seins der Veränderung in deinem Leben ist die beste Grundlage für einen Neugewinn. Dem Fluss des Lebens zu folgen, dein Selbstbild zu erweitern hinaus über das „Ich bin die Abteilungsleiterin“, „Ich bin der Ofenbauer“, „Ich bin die Eiskunstläuferin“. Dies loslassen zu können, ist der Anfang erneuter Erfahrungen von Fülle und Lebensfreude.
Und immer wieder der Einladung von Herrmann Hesse folgend und "heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen". Im Loslassen und Mitfließen gewinnen. Das, was ist, zulassen, anstatt verengt darauf fixiert zu bleiben, was stattdessen sein sollte.
Wer handelt, verdirbt - wer festhält, verliert.
Ist dieser Satz tatsächlich fernab jeglicher Alltagstauglichkeit?
Im kommenden erneuten Wechsel der Jahreszeit wünsche ich dir ein leichtes Mitgehen mit den Veränderungen in der Natur. Ich wünsche dir die Fähigkeit, Sommeraktivitäten dankbar für ihre erfüllenden Erfahrungen zu verabschieden. Und: Ich wünsche dir neue Freuden mit wunderschönen Herbstaktivitäten.
Ich wünsche dir jederzeit ein gutes Leben.
Heiter Raum um Raum durchschreitend, dem Fluss des Lebens folgend, jede Veränderung als Einladung zum Neubeginn eines nächsten Lebensabschnitts zu begrüßen.
Dein
Gert Kowarowsky
Alle Beiträge der Kolumne "Erfahrungen aus der Praxis" und mehr über den Autor und Psychotherapeuten Gert Kowarowsky findest du hier.
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