In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" spricht Gert Kowarowsky über die Aufmerksamkeit, die wir uns selbst und anderen im Alltag entgegenbringen können – und was wir damit bewirken.
Dieser Werbeslogan einer Versicherung zierte vor etwa 40 Jahren große Plakatwände in vielen deutschen Innenstädten. In Therapiegesprächen ist dieses Thema heute zu Recht immer noch sehr präsent. Die Mitbegründerin des Züricher Ressourcenmodells, die Psychologin Maja Storch, erweiterte diesen Slogan in Bezug auf alle uns wichtigen Menschen ganz wesentlich. Es geht eben nicht nur darum, einfach Zeit mit seinen Kindern, mit seinen Liebsten oder mit anderen wichtigen Bezugspersonen zu verbringen, sondern darum, dabei auch wirklich präsent zu sein.
Sie formulierte deshalb:
„Das wertvollste Geschenk, das du einem Menschen geben kannst, ist das AAO-Geschenk!“
Schenke deinem Gegenüber in all deinen Begegnungen die volle Aufmerksamkeit.
Schau dein Gegenüber an. Lass deinen Blick bei ihr oder ihm. Dies stellt nicht nur für Menschen, die unter ADHS leiden, eine Herausforderung dar. Wie schnell schweift dein Blick immer wieder einmal ab auf all das, was sich da um dich herum ereignet. Das schließt auch dein Handy mit ein. Anfangs mag es dir richtig schwerfallen, nicht immer wieder einmal kurz auf das Smartphone zu schauen, wenn es sich mit einer neuen Nachricht an dich bemerkbar macht.
Höre deinem Gegenüber tatsächlich zu. Mit beiden Ohren – nicht nur mit einem halben.
Das Wertvollste, was wir einander schenken können, ist tatsächlich gemeinsam verbrachte Zeit. Zeit, in der wir einander achtsam und aufmerksam wahrnehmen. Einander aufmerksam zuhören, uns dabei anschauen und unsere volle Aufmerksamkeit schenken.
Heute, im Jahr 2024, ist dieses AAO-Geschenk wertvoller denn je. Eben weil wir es im Alltag immer seltener geschenkt bekommen. Und leider gilt das auch für uns selbst. Allzu oft sind auch wir im Strudel des Alltags gefangen und vergessen manchmal, die Menschen um uns herum wirklich zu sehen.
Beobachte, woran du bei dir selbst feststellen kannst, ob du dich wieder einmal im Modus „schnell, schnell, Isabell“ befindest. Woran erkennst du, dass du ohne Pause von Termin zu Termin hetzt? Ist es die innere Unruhewelle? Das Gedankenförderband in dir mit hunderten Gedankenpäckchen darauf? Wie merkst du, dass du nicht wirklich offen bist für das, was deinem Gegenüber gerade wichtig ist?
Aufmerksamkeit ist ein unglaublich kostbares Gut. Wenn du jemandem deine volle Aufmerksamkeit schenkst, signalisierst du ihr oder ihm, dass du sie oder ihn wahrnimmst, dass sie oder er dir wichtig ist.
Ein indischer Arzt für Ayurveda, ein Vaidya, den zu interviewen ich vor langer Zeit einmal die Gelegenheit hatte, antwortete folgendes auf meine Frage, was denn aus seiner Sicht als Vertreter der ältesten Heilkunst das wesentlichste Element der Heilung wäre:
„Healing results from attention plus intention.“
Jede Art von Heilung ist das Ergebnis aus der vollen Aufmerksamkeit, die du deinem Gegenüber schenkst, begleitet von dem tiefen Wunsch des Bestmöglichen für diesen Menschen.
Im Alltag geht es meistens nicht um die Heilung der Menschen, denen du begegnest. Dennoch geschieht auf ganz natürliche Art und Weise sehr viel Gutes, wenn du bereit bist, Aufmerksamkeit zu schenken. Aufmerksamkeit zu schenken hat viele Facetten. Es kann etwas so Einfaches sein wie ein aufrichtiges Lächeln, ein wacher Blick oder ein offenes Ohr für die Sorgen und Freuden eines anderen Menschen. Ein zugewandtes Lächeln kann auch den Tag eines dir völlig fremden Menschen erhellen.
Ein freundliches Wort kann so wohltuend sein. Ein offenes Ohr kann Einsamkeit vertreiben. Das sind Geschenke, die wir einander machen können, ohne einen Cent auszugeben. Es sind Geschenke, die, wenn sie von Herzen kommen, oft so viel mehr bedeuten als materielle Dinge.
Lars berichtete in der letzten Sitzung davon, wie gut ihm der wohlwollende Blick und die herzlichen Worte im Vorbeigehen tun, wenn ihn sein hochbetagter Nachbar morgens mit seiner Aufmerksamkeit beschenkt: „Ich fühle mich dann so wertgeschätzt. Es ist sogar manchmal wie ein kleiner positiver Schock: 'Huch, es gibt mich ja!' Sein freundlicher Morgengruß zeigt mir, dass ich existiere und dass mein Dasein von Bedeutung ist. Es fühlt sich an wie eine kleine Dusche, die mein Selbstwertgefühl stärkt; dann fühle ich mich wie ein Teil einer Gemeinschaft. Zu erleben, dass er mich sieht, mich beachtet, mir gegenüber Wohlwollen ausstrahlt, erinnert mich immer wieder daran, dass ich nicht, wie der Philosoph Kierkegaard einst sagte, ins Dasein geworfen und allein bin, sondern in Beziehung zu anderen stehe. Dieses Gefühl der Verbundenheit empfinde ich jedes Mal als sehr tröstlich und emotional stützend.“
Lass dich von Lars' Erfahrungen inspirieren. Für viele Menschen ist Einsamkeit eine schmerzliche Erfahrung. Die Erfahrung, von einem anderen Menschen gesehen zu werden, hilft sehr dabei, sich weniger isoliert zu fühlen. Einfache Gesten, herzliche Worte, kleine Zeitinseln, mit denen du anderen zeigst, dass du sie bemerkst, können den Schmerz der Einsamkeit lindern. Denn immer dann, wenn wir gesehen werden, erfahren wir, dass wir nicht nur für uns selbst existieren, sondern auch für andere. Das kann uns manchmal sogar ein neues Gefühl von Sinnhaftigkeit schenken.
Der Wunsch, von anderen Menschen gesehen zu werden, ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Es beeinflusst unsere psychische Gesundheit, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere Lebensfreude. Daher sei großzügig mit deiner Aufmerksamkeit. Schenke sie anderen, so oft es für dich stimmig ist. Der Slogan:
Schenk deinem Kind mal Zeit statt Geld
ist tatsächlich eine wunderbare Erinnerung daran, dass Zeit das kostbarste Geschenk ist, das wir geben können – und nicht nur unseren Kindern.
Es ist erstaunlich, aber immer dann, wenn wir etwas mit reinem Herzen geben, ernten wir selbst, gemäß der Psychologie des Schenkens, mehr, als wir gegeben haben. Aufmerksamkeit zu schenken, erhöht deinen Energiepegel, verlängert dein Leben und kann sogar Schmerzen lindern. Wenn du jemandem deine Zeit, deine Aufmerksamkeit, deine Liebe schenkst, schenkst du ihr oder ihm das Wertvollste, was du hast – und beschenkst dich selbst mit dem Geschenk des Schenkens.
Ganz besonders gilt dies für Zeiten, in denen dir wichtige Menschen sich mehr als sonst gestresst fühlen und im Strudel der Alltagshektik gefangen sind. In solchen Lebensabschnitten bewusst geschenkte Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu erfahren, ist dann noch bedeutungsvoller und wohltuender.
Aufmerksamkeit und Zeit sind die schönsten Geschenke, die wir einander machen können. Also nimm dir, wann immer es dir möglich ist, Zeit; schenke Aufmerksamkeit und zeige den Menschen um dich herum, dass du sie siehst und ihnen aus tiefstem Herzen das Beste wünschst.
Lasst uns einander Beschenkende sein:
Schenke das AAO-Geschenk
Schenke anderen deine Aufmerksamkeit.
Schenke anderen deine Augen.
Schenke anderen deine Ohren.
Lasst uns einander Heilende sein:
Healing is attention plus intention
Lasst uns einander in bester Absicht aufmerksam begegnen.
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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