In dieser Beitragsserie berichtet der Psychologe Gert Kowarowsky von den Erfahrungen aus seiner therapeutischen Praxis.
Loslassen, von vorne anfangen, immer wieder von vorne anfangen – das fällt den meisten meiner Patienten unendlich schwer. Festhalten, auch wenn es schon lange nicht mehr gut ist – das erscheint trotz allem den meisten die bessere Wahl zu sein.
Ich kann das gut nachvollziehen. Festhalten – selbst angesichts des sicheren Todes im alten Lebensumfeld – wurde schließlich bereits von den Gebrüdern Grimm eindrücklich in dem Märchen von den Bremer Stadtmusikanten beschrieben. Der Hahn soll geschlachtet werden. Auch Katze, Hund und Esel sind sich ihres Lebens nicht mehr sicher auf dem Bauernhof, auf dem sie alle leben.
"Kommt mit, etwas Besseres als den Tod finden wir überall!"
Es ist spannend, dass selbst im Angesicht des sicheren Todes der eine dem anderen noch einen Knuff geben muss, um ihn aufzurütteln hin zur Veränderung, hin zum Abschied von dem längst nicht mehr Lebbaren.
Dieses Märchen ist sehr realistisch: Hahn, Katze, Hund und Esel verlassen zwar letztendlich den Bauernhof. Doch, oh weh, da ist der Wald mit seinem dornigen Gestrüpp. Da kommt die Nacht ohne Stall-Laterne. Da gibt es kein weiches Stroh zum bequemen Ruhen. Von leckerem und reichlichem Futter ganz zu schweigen. Die Verzagtheit ist groß. Ebenso das Bedauern: "Ach, wären wir doch nur in unserem vertrauten Umfeld geblieben, da wussten wir wenigstens, was wir hatten!" Doch dort in der Ferne: ein Licht, ein Haus, vielleicht sogar ein neuer Lebensraum? Die Hoffnung ist groß, die Lebensgeister erwachen, um im nächsten Moment wieder völlig in sich zusammenzufallen. Nein, das Haus ist gewiss kein neues Zuhause. Räuber hausen darin, schreckliche Räuber. Die ganze Kreativität, die ganze Intelligenz, der ganze Mut der Gefährten ist nun gefragt, um die Räuber mit List aus dem Haus zu jagen. Und dann erst, dann erst kann es heißen: "Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie dort heute noch zufrieden und glücklich!"
Warte nicht, bis dein Leid so groß ist, dass du keine andere Wahl hast, als dich zu ändern. Entscheide dich immer dann für Loslassen und Neuanfang, wenn du spürst: Hier habe ich gelernt, was es zu lernen gab. Jetzt gilt es, Stagnation zu überwinden und zu wachsen.
Sei dir jedoch auch hierbei immer bewusst, wann dein Weitergehen – weil die Situation gerade schwierig ist – ein Davonlaufen ist. Mitunter geht es vielmehr darum, den Schwierigkeiten standzuhalten und daran zu wachsen. Anderseits sei dir im Klaren darüber, wann Dableiben bedeutet, stumpf zu werden und zu erschlaffen.
Bewahre dir den Anfängergeist. Anfängergeist bedeutet, immer alles so zu tun, als wäre es das allererste Mal. Anfängergeist hilft dir dabei, dein Leben jeden Morgen neu zu beginnen. Sowohl im wiederholten Tun des Vertrauten, wie im wachen Ausprobieren des Neuen.
Dein
Gert Kowarowsky
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