In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" geht es um das Bezaubernde und Wunderbare im Alltäglichen.
Wenn Patientinnen und Patienten zu mir kommen, wissen sie in den meisten Fällen sehr differenziert zu berichten, was in ihrem Leben alles nicht funktioniert, was nicht so ist, wie es sein sollte – kurzum, wie wenig lebenswert ihr Leben derzeit für sie ist. Erstaunt sind sie dann immer wieder darüber, wenn ich sie bitte, bis zu unserer nächsten Sitzung jeden Abend mindestens drei Dinge zu notieren, die an diesem Tag gut gelaufen sind, worüber sie sich gefreut haben, wofür sie dankbar sind.
Und nein, es geht nicht darum, so zu tun, als ob es die aktuellen Schwierigkeiten nicht gäbe, oder sich mit den hellen Seiten des Lebens abzulenken.
Es geht um etwas viel Wichtigeres:
Auch wenn es zu Recht einiges zu bemängeln und zu verändern gibt in dir, in deinem Leben und in der Welt – es gibt immer auch gleichzeitig Schönes, Bewundernswertes, Bezauberndes inmitten der Alltäglichkeiten. Die Wiederverzauberung der Welt besteht darin, all dies wiederzuentdecken: das, wofür du dankbar sein kannst, was dich berührt, die vielen kleinen unerwarteten Schönheiten des Alltags, ja, des Lebens selbst.
Die verblüffende Erkenntnis, die ich in meiner Praxis wieder und wieder bestätigt bekomme, ist nämlich folgende: Glück ist erstaunlicherweise nur sehr bedingt von äußeren Umständen abhängig. Menschen, die sich in günstigen Umständen befinden, sind nicht zwangsläufig glücklich. Die glücklichsten und zufriedensten Menschen sind diejenigen, die zu Wertschätzung und Dankbarkeit fähig sind, auch in weniger günstigen Umständen.
Die alltägliche Beobachtung zeigt mir immer wieder:
Nicht die glücklichen Menschen sind dankbar,
sondern die dankbaren sind glücklich.
Deshalb erhalten so viele meiner Patientinnen und Patienten die vermeintlich unbedeutende Aufgabe, ihren Wahrnehmungsradar einzustellen auf die erfreulichen Mikroelemente des Alltags: die singende Amsel vor dem Fenster, der freie Parkplatz, die gelungene Arbeit, das Telefonat mit dem Freund, die Geborgenheit im Kreis vertrauter Menschen …
Diese einfache Anleitung führt regelmäßig zu einem tiefgehenden Effekt: Je länger du tatsächlich Wertzuschätzendes aufschreibst, desto mehr nimmst du Dankenswertes in deinem Alltag wahr. Der Wahrnehmungsfokus verschiebt sich mehr und mehr auf das Positive und das Stichwort Dankbarkeit begleitet dich als unterstützende Kraft immer mehr.
Über die positiven Auswirkungen, ein Dankbarkeitstagebuch zu führen, liegen inzwischen viele wissenschaftliche Untersuchungen vor. Die Liste der Forschungsergebnisse zeigt einerseits eine Zunahme von guter Laune, Optimismus, harmonischen sozialen Kontakten, Selbstvertrauen sowie ein Grundgefühl von Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens auf. Andererseits aber auch eine deutliche Abnahme von Angst, Depression, Hoffnungslosigkeit, innerer Getriebenheit und Stress. Schwierige Situationen und schmerzliche Ereignisse sind in der Regel nach wie vor schwierig und schmerzlich, aber weniger überwältigend.
Die Wiederverzauberung der Welt durch den Blick der Wertschätzung und Dankbarkeit bedeutet jedoch definitiv nicht, dass man das Negative in der Welt ignorieren sollte! Nein. Es gilt aber, sich nicht davon beherrschen zu lassen. Natürlich ist es wichtig, Unrecht, Gewalt und Gefahr – alles, was unser persönliches oder gemeinschaftliches Glück bedroht – klar zu sehen und zu benennen und da, wo es möglich ist, zu verändern.
Dankbarkeit kannst du empfinden für das Gegenwärtige, Vergangene und sogar für das Zukünftige! Dankbarkeit kann einen Adressaten haben, muss es aber nicht. Dankbarkeit kannst du empfinden für ein schönes Erlebnis oder gegenüber einem anderen Menschen. Darauf muss das Dankbarkeitserleben aber nicht begrenzt sein. Die Erfahrung vieler Menschen, die ihr Dankbarkeitsempfinden bewusst pflegen, zeigt, dass sie sich zunehmend in einer wiederverzauberten Welt wiederfinden. Dankbarkeit hilft, ein allgemeines, alles durchdringendes Lebensgefühl von Zufriedenheit zu entwickeln, das nicht so leicht zu erschüttern ist. Dankbarkeit, in ihrer gesunden Form, vertieft das Gefühl der Verbundenheit mit dir selbst und mit all dem, was um dich herum ist. Sie macht das Herz weit und ist fern von Gefühlen der Schuld oder Pflicht.
Öffne deine Augen und freue dich, dass du sehen kannst.
Öffne deine Ohren und freue dich, dass du hören kannst.
Erlaube dir, die allerkleinsten Dinge des Lebens wieder wertzuschätzen.
Erlaube dir die Erfahrung von gelebter Dankbarkeit als ein zutiefst heilendes Lebensgefühl.
Lass dich durchströmen vom Gefühl der Dankbarkeit und genieße die zunehmende Veränderung, die mehr und mehr darin besteht, dass du nicht mehr dankbar bist für dies oder für jenes, sondern einfach spürst: Ja, ich bin dankbar, einfach dankbar. Dieser Strom mag mal deutlicher spürbar sein, mal tiefer in den unterirdischen Gefilden vergraben. Aber immer wird er dich nähren mit einem tiefen Gefühl von Frieden.
Dein
Gert Kowarowsky
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