Folge 37: Kleine Fluchten – oder kleine Neugeburten?

In dieser Beitragsserie berichtet der Psychologe Gert Kowarowsky von den Erfahrungen aus seiner therapeutischen Praxis. Dieses Mal: Warum wir uns erlauben sollten, regelmäßig Kraft zu tanken!

Folge 37: Kleine Fluchten – oder kleine Neugeburten?
© PAL Verlag

Immer, wenn ich den Begriff "kleine Fluchten" höre, dann denke ich mir: "Nein, nein – es geht nicht darum zu fliehen, sich den Lebensaufgaben zu entziehen, um sich für kurze Zeit zu betäuben, um danach noch bedrückter mit den schwierigen Situationen konfrontiert zu sein. Es geht darum, Kraft zu tanken. Es geht darum, wieder klar zu werden. Es geht um kleine Neugeburten."

Fliehe ins Hier und Jetzt!

Ja, manchmal ist es einfach zu viel. Ja, manchmal kommen dann Gedanken wie:

"Halt die Welt an – ich will aussteigen …"

"Ich bin reif für die Insel …"

"Nix wie weg hier …"

Ich habe mir überlegt, was ich meinen Patienten für solche Lebenssituationen anbiete. Welche Möglichkeiten zu "kleinen Fluchten" ich in meinem therapeutischen Handwerkskoffer habe. Mein häufigster Rat für die beste "Flucht" besteht darin, sich nicht vor einer Gefahr, vor einer schwierigen Situation, vor einem Zuviel an Aufgaben und Anforderungen irgendwohin, weit weg zu begeben oder sich zu betäuben.

Im Gegenteil, wenn du in Bedrängnis bist, besteht die beste „Flucht“ darin, dich ganz ins Hier und Jetzt zu begeben. Die Flut von Gedanken und äußeren Reizen lässt sich am leichtesten bändigen, indem du dich auf das fokussierst, was genau hier, genau jetzt da ist. Am leichtesten kommst du wieder zu Sinnen, wenn du deiner Aufmerksamkeit erlaubst, ihrer eigenen Natur zu folgen.

Zeit für einen Reboot des Geistes

Die natürliche Tendenz deiner und unserer aller Aufmerksamkeit besteht darin, sich immer spontan dem Angenehmen zuzuwenden: Was also höre ich gerade, was mir gefällt? Was rieche ich? Was sehe ich? Was schmecke ich? Was zu berühren fühlt sich gerade gut für mich an?

Erlaube deinen fünf Sinnen, sich ins Hier und Jetzt zu begeben. Erlaube deinem Gehirn einen „Reboot“. Lass deinen Sorgen-Problem-Hochrechnungs-Gehirncomputer einfach einmal neu starten. Komme ganz ins Hier und Jetzt – und lass dich überraschen, wie viel klarer, lösungsorientierter und zuversichtlicher du danach wieder bist.

Die Geschichte von Paul

Immer wieder schmunzele ich, wenn ich daran denke, wie empört Paul war, als ich ihm diese "Technik der kleinen Flucht ins Hier und Jetzt" erläuterte. "Und so ein Quatsch soll helfen? Ich hatte mir eigentlich von Ihnen etwas Brauchbareres erhofft!"

Paul hatte kürzlich eine für ihn wirklich schwierige Situation zu meistern. Er wusste nicht mehr ein noch aus. Die Handwerker konnten an seinem Haus, das er schon letztes Jahr im September beziehen wollte, nicht mehr weiterarbeiten, weil sie das zur Fertigstellung dringend benötigte Baumaterial nicht geliefert bekamen. Drei seiner Kollegen waren in Quarantäne, weil sie Kontakt mit einem Covid-positiv getestetem Freund hatten. An einem Mittwochabend kam es aber dann noch dicker: Sein Auto gab auf der Heimfahrt den Geist auf und musste abgeschleppt werden. Und zu allem Überfluss kochte ihm auch noch der Haferschleimbrei für sein kleines Baby über. Da fiel ihm seine letzte Therapiestunde wieder ein:

"Wenn es dir zu viel wird, komm ins Hier und Jetzt! Komm wieder zu Sinnen!"

Er berichtete mir, wie er innerlich die Augen verdrehte. Noch einmal besonders empört war über meinen vermeintlich so weltfremden Rat. Aber dann doch hinausging auf den kleinen Balkon seiner Mietwohnung. Das erste, was er spürte, war die angenehme Kühle der Abendluft.  Er sah die Weite des Himmels über sich, die ihm körperlich sofort die Erfahrung vermittelte, weniger bedrückt zu sein. Und lächeln konnte er schließlich, als er seinen eigenen Kommentar hörte über ein munteres Vogelgezwitscher auf dem Geländer eines Nachbarbalkons: "Blöder Vogel, brauchst hier gar nicht so blöd rumzuzwitschern. Im Moment gibt‘s überhaupt keinen Grund unbeschwert vor sich hin zu trällern!"

Und dennoch berührte Paul dieses abendliche unbeschwerte Gezwitscher zutiefst: "In diesem Moment ist mir klar geworden, dass es bei allem Leid, bei allen Problemen, auch gleichzeitig immer ein Feld der Problemfreiheit, ein Feld aller Möglichkeiten gibt.  Im Hier und Jetzt gibt es immer einen Ort der Harmonie, einen Ort des Trostes, einen Ort innerer Stille. Ja, bei allem Schwierigen, bei allem, was gerade so ist, wie ich es nicht möchte, gibt es immer auch dieses Feld dazwischen: Das, was ich Angenehmes jetzt hören kann, riechen kann, schmecken kann, berührend fühlen kann. Dazwischen liegt Stille, Leichtigkeit, Frieden. Durch meine Bereitschaft, das Abendlied dieses kleinen unscheinbaren Vogels bewusst wahrzunehmen, war ich tatsächlich wieder ganz in mir angekommen. Irgendwie in Sicherheit in mir. Nichts hatte sich geändert an all meinen Problemen. Aber ich war wieder zu Sinnen gekommen. War wieder ganz in mir. Fühlte wieder dieses grundlegende Urvertrauen, das mir in den letzten Wochen mehr und mehr verloren gegangen war."

Stille und Urvertrauen

Vielleicht hilft dir Pauls Erfahrung, wieder zu Sinnen zu kommen, wenn du das nächste Mal nicht mehr weißt, wo dir der Kopf steht. Erlaube dir einfach zu spüren: Hm, ja, das kalte Wasser, mit dem ich gerade meine Hände wasche, tut wirklich gut. Ja, der Duft des Kaffees, der aus der Küche zu mir dringt, lädt mich ein aus der Flut meiner sorgenvollen Gedanken wieder ins Hier und Jetzt zurückzukommen.

Und natürlich kannst du von nun an jedes Zwitschern auch des kleinsten Vögelchens als Einladung zu einem tiefen Atemzug, als Einladung zu einer genüsslichen Entschleunigung, als Einladung hören, dich an das weite Feld der Stille und des Urvertrauens in dir zu erinnern.

Lass dich durch deine Sinne in schwierigen Situationen immer wieder einladen zu einer kleinen Neugeburt zurück ins Hier und Jetzt.

 

Dein

Gert Kowarowsky

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