Von mangelndem Selbstvertrauen zu einem gesunden Selbstkonzept – #81

Minderwertigkeitsgefühle sind oft Folge eines negativen Selbstkonzepts, in dem wir unser Verhalten verwechseln mit dem, was unser Wesen ist. In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" erfährst du, wie du dich von Selbstbewertungen befreist.

Von mangelndem Selbstvertrauen zu einem gesunden Selbstkonzept – #81
© PAL Verlag, unter Verwendung einer Illustration von Christina von Puttkamer

Nicht selten eröffnen Menschen, die zu mir kommen, das Gespräch damit, dass sie sagen: "Mein Problem ist, dass ich Minderwertigkeitskomplexe habe!" Was genau ist damit gemeint? Was meinst du, wenn du sagst: "Ich habe ein mangelndes Selbstbewusstsein"? Wenn du sagst: "Ich habe mangelndes Selbstvertrauen" oder "Ich leide an Selbstunsicherheit"?

Was ist das Selbstkonzept?

Wenn es dir gelingt, die Begriffe "Selbst" und "Selbstwert" kritisch zu hinterfragen, lösen sich viele selbstwertbezogene Probleme quasi in Luft auf. Lass uns deshalb zuerst den Begriff "Selbstkonzept" von allen Seiten betrachten und danach einen tiefen Blick auf das Konzept des persönlichen Wertes werfen.

Viele Störungen und irrationale Gedanken sind tatsächlich die Folge eines negativen Selbstkonzepts. Oft wird jedoch das Selbst, das Wesen, deine "wahre Art", das, was du bist, verwechselt mit dem, was du tust. Dein Verhalten ist das, was du tust, wie du dich verhältst. Dein Verhalten lässt sich beobachten.

Dein Selbst, dein innerstes Wesen, ist dir jedoch oftmals nicht bewusst. Die aus der griechischen Antike stammende Forderung "Erkenne dich selbst" müsste besser übersetzt lauten: "Erkenne dein Selbst". Die tiefste Essenz deines Bewusstseins, der Urgrund deines individuellen Seins – das ist es, was als "dein Selbst" bezeichnet werden kann.

"Selbst-Bewusstsein" bedeutet auf der tiefsten Ebene deshalb:

 „Ich bin mir meines innersten Selbst bewusst“.

Verwechsle nie das, was du tust, mit dem, was du bist!

Im Alltag sprechen wir jedoch fast nie davon, dass ich mein Innerstes nur mangelhaft wahrnehmen kann und es mir deshalb an Selbstbewusstsein fehlt.

Im Alltag verwechseln wir meistens Verhalten mit Sein. Deine Aufmerksamkeit liegt überwiegend auf dem, was du tust. Gelingt manches nicht oder nicht gut genug, fühlen sich viele Menschen schlecht. Und wenn nach zwei, drei Anläufen immer noch kein Erfolg eingetreten ist, geben viele auf, ziehen sich zurück, haben vermeintlich "ihr Selbstbewusstsein verloren".

Verwechsle nie das, was du tust, mit dem, was du bist! 

Das ist durchaus nicht ganz einfach. Von klein auf hast du nämlich Sätze gehört wie: "Oh – du hast mir Blümchen gepflückt, du bist aber lieb!" Oder das Gegenteil: "Oh – du hast meine Lieblingsvase kaputt gemacht, du bist böse!" Und manchmal sogar: "Geh in dein Zimmer und lass dich nicht mehr sehen. So ein böses Kind wie dich mag ich nicht mehr um mich haben!"

Derartige Sätze haben unser negatives Selbstbild geprägt. Die rationale, realistische Version hingegen hätte in etwa so lauten können: "Oh – du hast mir Blümchen gepflückt. Das hast du ganz schön gemacht. Darüber freue ich mich sehr!" Oder: "Oh – du hast meine Lieblingsvase kaputt gemacht. Ich ärgere mich sehr darüber, dass du hier im Wohnzimmer Ball gespielt hast. Lass das bitte zukünftig bleiben!"

Was du meist gelernt hast, ist: Ich tue etwas, was dem anderen gefällt, und damit bin ich gut. Ich tue etwas, was dem anderen nicht gefällt, und damit bin ich schlecht. Nein!

Der andere kann dich nie als Person kritisieren, sondern nur dein Verhalten.

Und gleichermaßen: Du kannst nur das Verhalten des anderen kritisieren, niemals seine Person.

Welche negativen Folgen kann ein Selbstkonzept haben?

So verständlich diese realistische Sichtweise auch ist, so wenig hindert sie die wenigsten Menschen daran, weiterhin ein negatives Selbstkonzept zu pflegen. Eben weil sie hartnäckig glauben, dass das, was sie tun, das ist, was sie sind. Noch dazu wird das Ganze getoppt durch unsere Fähigkeit zu subjektiver Wahrnehmungsverzerrung.

Ein Selbstkonzept ist immer nur eine Stichprobe aller bisherigen Lebenserfahrungen eines Individuums. Ganz häufig ist diese Stichprobe jedoch nicht repräsentativ und damit ergeben sich bezüglich des Selbstkonzepts Probleme. Ein Beispiel:

Lukas hat mir letzte Woche in der Therapiestunde berichtet, dass er heute Morgen auf dem Weg vom Kühlschrank zur Bratpfanne das Frühstücksei hat fallen lassen. Sofort dachte er daran, dass er letzte Woche beim Auspacken aus der Einkaufstasche eine ganze Packung von zehn Eiern zu Rührei auf dem Küchenboden verwandelt hatte und just in dem Moment fiel ihm auch noch ein, wie er bei seinem ersten Ferienjob in einem Supermarkt eine ganze Palette Eier mit dem Warenstapler zu Fall gebracht hatte. Ihm erschien es also völlig logisch und angemessen, Dinge über sich zu sagen und mit voller innerer Überzeugung zu denken wie: "Ich bin (!) der Eierdepp." 

Natürlich weigert sich sein Gehirn in diesem Moment, auch nur ein einziges Ei gegenzurechnen, das unversehrt von ihm vom Supermarkt in den Kühlschrank und unversehrt vom Kühlschrank in die Pfanne gelangte. Nein, all diese im Laufe eines Lebens oftmals Tausende unversehrt verarbeiteter Eier zählen in diesem Moment nicht. "Ich bin (!) ein Eierdepp, basta!"

Deshalb rate ich dir, ebenso wie ich es Lukas vermittelte, dich mit folgendem Gedanken anzufreunden: Von einem rationalen Standpunkt aus betrachtet ist es günstiger, gar kein Selbstkonzept zu haben, weil jegliches Konzept, das wir über uns selbst erstellen, doch nie der Wirklichkeit entsprechen wird. 

So befreist du dich von deiner eigenen Bewertung

Bewerte, wenn du unbedingt bewerten möchtest, das, was du gerade getan hast. Aber bewerte dich niemals als ganze Person. Bewerte, wenn du unbedingt bewerten möchtest, das, was die oder der andere gerade getan hat. Aber bewerte sie oder ihn niemals als ganze Person.

Die psychisch gesündeste Haltung besteht wohl darin, sich – wie jeden anderen Menschen auch – als fehlbares menschliches Wesen zu würdigen. Ein zweifellos auf Tatsachen basierendes Konzept. 

Die Schlussfolgerung ist tiefgreifend und befreiend: Du kannst nun den dauerhaften, anstrengenden Versuch aufgeben, dich über gute und erfolgreiche Handlungen zu einem guten und erfolgreichen Menschen machen zu wollen.

Praxistipp:

Du kannst deine Lebensfreude ganz wesentlich steigern, indem du dir immer wieder den Unterschied von Handeln und Sein bewusst machst. Trenne streng zwischen "Tun" und "Sein". 

Sollte eine Prüfung daneben gehen, kannst du dann den Satz "Ich habe die Prüfung nicht bestanden" bedauernd aussprechen. Das Bedauern hat eine rationale Basis: Die mit dem Bestehen der Prüfung einhergehenden Vorteile sind dir nun (erst einmal) verwehrt. Die weitergehende Schlussfolgerung daraus, als Mensch durch und durch und in allen Bereichen des Lebens deshalb jetzt erwiesenermaßen "eine Versagerin oder ein Versager zu sein", ist dann allerdings nicht mehr möglich.

Im Alltag finden wir jedoch nicht nur die Vermischung von "Handeln" und "Sein". Die allermeisten Personen, die mit dem Problem vermeintlicher Minderwertigkeit zu mir in die Praxis kommen, gehen üblicherweise sogar noch einen Schritt weiter. Sie ziehen für sich dann die Schlussfolgerung: "Nicht nur, dass ich die Prüfung nicht bestanden habe und deshalb eine Versagerin oder ein Versager ‚bin‘, belastet mich, sondern die Tatsache, dass ich jetzt der ganzen Welt gezeigt habe: ‚Ich bin wertlos!‘, mein Wert als Mensch ist jetzt gleich Null!" In dem Moment aber, in dem jemand sich durch und durch für wertlos erachtet, sind Rückzug, Hemmungen, Depressionen, im schlimmsten Falle Suizidgedanken, naheliegend und mehr als nachvollziehbar.

Dieser Selbstmisswertschätzung kannst du jedoch erfolgreich dadurch entgegengetreten, dass du dir wieder und wieder den Unterschied von "Sein" und "Handlung" vor Augen hältst. Das Ziel dabei ist klar. Es geht darum, diese Erkenntnis tief in dir zu verankern:

Deine einzelnen Eigenschaften und Verhaltensweisen kannst du natürlich einschätzen und bewerten. Aber es gibt keinen Zaubertrick, wonach (nach einem bestimmten Wertmaßstab!) aus gutem und wertvollem Handeln ein gutes und wertvolles Sein resultieren könnte – genauso wenig wie das im Negativen der Fall ist.

Nicht akzeptiert und geliebt zu werden, ist für die meisten Menschen definitiv eine schmerzliche Erfahrung. Und dennoch wäre es eine falsche Schlussfolgerung zu denken: „Das ist jetzt aber wirklich der Beweis, dass ich wertlos bin, weil niemand mich akzeptiert oder liebt.“

Andererseits ist akzeptiert und geliebt zu werden für die meisten Menschen definitiv eine positive Erfahrung. Und doch erlaubt sie nicht die Schlussfolgerung: "Ich bin jetzt wertvoll, weil mich andere mögen."

Die Zauberformel für ein entspanntes Verhältnis mit dir selbst

Die Zauberformel, die sich zur Auflösung der Selbstwertproblematik bewährt hat, lautet:

  • Radikale Akzeptanz: Ich akzeptiere mich völlig und bedingungslos.
  • Ich würdige ab jetzt meine Verhaltensweisen, Eigenschaften und Erfahrungen und verzichte darauf, ein Urteil über mich selbst als Ganzes zu fällen.

Damit bist du frei, auf das zu schauen, was du getan hast und was du nicht getan hast, was du das nächste Mal besser zu tun gedenkst, was du genau so noch einmal tun möchtest und was du nicht mehr tun möchtest. Damit stehst du dir selbst und allen übrigen Menschen völlig tolerant gegenüber und hörst auf damit, über dich und andere globale Urteile abzugeben.

Genieße jeden Tag dein Leben. 

Und wenn du dein SELBST-Bewusstsein im tiefsten Sinne des Wortes steigern möchtest, nimm dir einfach jeden Tag ein paar Minuten Zeit. Zeit in dir, mit dir, in Stille in deinem SELBST zu SEIN.

Dein

Gert Kowarowsky

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Ellen schreibt am 19.02.2023

Das tut ja mal richtig gut , das so zu lesen. Hilft mir sehr.


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 Was ist das Selbstkonzept?
 Verwechsle nie das, was du tust, mit dem, was du bist!
 Welche negativen Folgen kann ein Selbstkonzept haben?
 So befreist du dich von deiner eigenen Bewertung
 Die Zauberformel für ein entspanntes Verhältnis mit dir selbst
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