In diesem Beitrag der Serie "Erfahrungen aus der Praxis" spricht Gert Kowarowsky über Selbstmitgefühl und zeigt, wie wir unser Selbstmitgefühl entwickeln und stärken können.
Den Begriff Mitgefühl kennen wir (fast) alle. Selbstmitgefühl ist ein Ausdruck, der uns im ersten Moment nicht vertraut erscheint. Doch genau das ist es, was die beste Grundlage für ein bereicherndes Miteinander sein kann. Beim Selbstmitgefühl besteht die Herausforderung darin, nicht nur freundlich und verständnisvoll mit anderen umzugehen, sondern auch mit dir selbst.
Immer dann, wenn du im Kontakt mit anderen bist, stehst du vor einer großen Aufgabe. Sie besteht darin, eine gute Balance zu finden. Die Balance im Kontakt mit dir zu bleiben, während du im Kontakt mit anderen bist. Die Aufgabe besteht darin, die Herausforderung zu meistern in der Welt und im Kontakt mit anderen zu sein und gleichzeitig den Kontakt zu dir und deinem Innersten nicht zu verlieren.
Johanna entschloss sich, an sich zu arbeiten, weil sie es für sich in der Vergangenheit häufig so erlebte:
"Wenn ich mit meinen Freundinnen zusammen bin, versteh ich meistens sehr schnell, was die anderen wollen, wie die anderen einen Sachverhalt sehen, wie sie sich fühlen und was sie sich von mir wünschen. Oftmals verliere ich dann aber völlig die Verbindung zu mir selbst. Ich spüre dann kaum noch, was ich möchte, relativiere meine Sicht auf die Dinge und finde die Bedürfnisse der anderen oftmals wichtiger als meine eigenen."
Sebastian wiederum empfindet das Ungleichgewicht seines Blicks auf andere und auf sich selbst besonders stark im Zusammenhang mit Fehlern. Anderen vermag er sehr wohlwollend zu begegnen, auch wenn sie Mist gebaut haben. Wenn ihm selbst ein Fehler unterläuft, ist jedoch sofort Schluss mit lustig. Eines seiner Therapieziele bestand deshalb darin, sich in schwierigen Situationen genauso wohlwollend zu begegnen wie einem guten Freund. In einer Sitzung, in der er sich wieder einmal sehr selbstabwertend über einen seiner Fehler geäußert hatte und ich ihn darauf aufmerksam machte, sagte er: "Sie meinen also, ich sollte trotz meiner Fehler und Unzulänglichkeiten ein freundliches Verständnis für mein fehlerhaftes Menschsein aufbringen?"
Worum es bei der Entwicklung eines gesunden Selbstmitgefühls geht, ist folgendes:
Die Erfahrung von Johanna, den Strahl ihrer Aufmerksamkeit ausschließlich auf die anderen zu richten, konnten wir sehr schnell entlarven als Ausdruck ihrer Angst, auf gar keinen Fall egoistisch oder gar narzisstisch sein zu wollen. Im Verlauf unserer Gespräche konnte sie ebenfalls sehr schnell erkennen, worum es gesunderweise wirklich geht:
"Ich verstehe jetzt. Es geht also darum, ein Auge nach innen und ein Auge nach außen zu richten. Es geht darum zu spüren, was ich möchte, was meine Bedürfnisse sind, wie ich die Dinge sehe. Ein liebendes, wohlwollendes Auge nach innen auf mich selbst zu richten. Mein zweites Auge kann dann genauso wohlwollend und aufmerksam auf mein Gegenüber schauen, um in Erfahrung zu bringen, was andere möchten, was ihre Bedürfnisse sind, wie sie die Dinge sehen."
Genau das ist es. Dieser Sachverhalt wird von verschiedenen psychologischen, philosophischen und religiösen Lehrenden auf unterschiedliche Art und Weise in Worte gefasst:
Dein gesundes In-der-Welt-Sein setzt voraus, wahrnehmen zu können, was in dir ist und was in anderen und in der Welt um dich herum ist.
Während du dich um andere kümmerst, verliere nicht den Kontakt zu dir selbst und zu deinen Bedürfnissen. Sorge gleichzeitig gut für andere und dich selbst.
Während du dein Ding machst, verliere nicht den Kontakt zu anderen und ihren Bedürfnissen. Sorge gleichzeitig gut für dich selbst und für andere.
Ja! – Wie dich selbst! Manchmal liebe ich es ein wenig provokativ zu sein in meinen Sitzungen. Ich sage dann solche Dinge wie: "Wenn du nachhause kommst, prüfe nach, ob du vielleicht auch im Besitz einer solchen Raubkopie der Bibel bist, in die die weitverbreitete Formulierung fälschlicherweise eingedruckt wurde: Liebe deinen Nächsten und ja nie dich selbst … Falls dem so sein sollte, streiche diese Stelle und schreibe korrekterweise hinein: ... genauso wie dich selbst …"
Wenn du dein gesundes Selbstmitgefühl trainieren möchtest, achte darauf, wie du mit dir selbst sprichst. Verzichte darauf, dich selbst zu kritisieren. Bleib bei Fehlern liebevoll und freundlich mit dir. Schaue einfach genau hin und überlege dir, wie du es das nächste Mal besser machen kannst. Dir selbst zu vergeben, verhindert Schuldgefühle und hilft dir dabei, es das nächste Mal bewusster anzugehen.
Selbstmitgefühl entwickelst du auch dadurch, dass du dir angewöhnst, achtsamer mit den Signalen deines Körpers umzugehen. Wenn du müde bist, erlaube dir zu schlafen. Wenn du Durst verspürst, trinke etwas. Wenn du zur Toilette musst, gehe zur Toilette und überrede dich nicht, erst noch dies oder jenes zu tun.
Selbstmitgefühl bedeutet auch, deine Gefühle wahrzunehmen. Achtsamkeit bedeutet hierbei konkret, dir zu sagen: "Ja, jetzt bin ich traurig. Ja, jetzt bin ich wütend. Ja, jetzt bin ich …" Deine wahrgenommenen Gefühle zu registrieren und zu akzeptieren, ist der Königsweg, um in gutem wohlwollenden Kontakt mit dir zu bleiben.
Johanna und Sebastian konnten sich beide auf diesen Prozess des Einübens von Selbstmitgefühl einlassen. Beide machten die gleiche Erfahrung:
Liebevoll mit mir umzugehen und mein Ding zu machen, hilft mir sehr dabei, mich viel tiefer und gesünder mit anderen verbunden zu fühlen.
Genieße dein Selbstmitgefühl – for a better world!
Dein Gert Kowarowsky
… ist die psychotherapeutische Kolumne mit Inspirationen für deine Lebensgestaltung und den Umgang mit schwierigen Lebensthemen. Du findest alle Teile der Kolumne und mehr über den Autor Gert Kowarowsky hier.
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